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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
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richtigen Namen Herbert Frahm besucht er von Oslo aus bis zum Ausbruch des Krieges allein achtmal die Exilzentrale der SAP in Paris, wo er sich mit dem hauptamtlichen Parteisekretär und anderen Spitzengenossen in nächtelange «Perspektiv»-Debatten verstrickt. In gleicher Weise hartnäckig wirbt er in Stockholm, Kopenhagen und London für seine Idee von einer linken Einheitsfront.
    Darüber hinaus beweist sich Brandt in Norwegen als nimmermüder Motivator. Dass dem von den Nazis im Konzentrationslager Esterwegen schwer gequälten Publizisten Carl von Ossietzky im Winter 1936 in Abwesenheit der Friedensnobelpreis zuerkannt wird, gründet sich im Wesentlichen auf seine Initiative. Der Leidensweg des unheilbar erkrankten Pazifisten – in der Weimarer Republik Herausgeber der berühmten «Weltbühne», die Brandt als Pennäler bereits in seiner Lübecker Dachkammer gelesen hat – rührt ihn nicht nur als individuelles Schicksal an. Eine erfolgreiche Kampagne, in der es ihm gelingt, nahezu einhundertdreißig Abgeordnete des norwegischen Storting und des schwedischen Riksdag zu einer Unterschriftenaktion zugunsten des deutschen Kandidaten zu bewegen, wertet der glühende Antifaschist als Etappensieg über das NS-Regime.
    Als die Entscheidung des Nobelpreiskomitees verkündet wird und Hitler darauf mit wütenden Ausfällen reagiert, befindet sich der umtriebige Widerstandskämpfer abermals auf Achse. Von Jacob Walcher im Juli 1936 nach Berlin beordert, versucht er dort, die in dreieinhalb Jahren brauner Gewaltherrschaft erheblich geschwächten Untergrundkader zu ermutigen. Seinen Kopf, wie er später schreibt, «in den eines Raubtiers» legen zu sollen, erscheint ihm einen Augenblick lang als purer Leichtsinn, doch die Verlockung, sich zum ersten Mal in die Höhle des Löwen zu begeben und die neue deutsche Wirklichkeit aus eigener Anschauung besichtigen zu können, überwiegt alle Bedenken.
    Mit sorgfältig gefälschten Papieren, die auf die Personaldaten des Schein-Ehemanns seiner Gefährtin Gertrud Meyer ausgestellt sind, wagt Brandt über Gedser und Warnemünde die Einreise in die alte Heimat. Am Kurfürstendamm bezieht er bei einer Zimmerwirtin eine kostengünstige Absteige und stellt sich den Behörden als der angehende Historiker Gunnar Gaasland vor, der sich für die Geschichte seines Gastlandes interessiert.
    Es ist eine aufregende, in ihrer Ereignisdichte zuweilen atemberaubende, aber auch ebenso häufig von würgenden Ängsten verdüsterte Zeit. Nie in seinem Leben, entsinnt sich der waghalsige Agent noch im hohen Alter, habe er danach ein «ähnlich perfekt organisiertes potemkinsches Dorf» betreten wie damals das im Glanz der Olympischen Spiele erstrahlende und in den folgenden Wochen wieder zur hässlichen Nazi-Hochburg zurückgebaute, im SAP-Jargon so genannte «Metro».
    Seine Legende ermöglicht es ihm, in der Preußischen Staatsbibliothek arbeiten zu dürfen, wo er in der Regel die Vormittage verbringt und sich zum Schein systematisch der wichtigsten NS-Literatur widmet. Die konspirativen Treffen finden dann nahezu ausschließlich in Parks statt – in allen Fällen akribisch vorbereitete Kontakte, bei denen er sich unter dem Decknamen «Martin» die denkbar größte Selbstdisziplin auferlegt. Alkoholgenuss oder Amouren sind in den drei Monaten seines Berlin-Aufenthalts tabu.
    Denn schließlich gibt es genug prekäre Situationen. Als vermeintlicher Ausländer hat er sich nicht nur bei der Polizei zu melden, die ihm eines Tages sogar vorübergehend den Pass entzieht, sondern muss sich auch sonst wie auf einem verminten Terrain vorantasten. Mal trifft der stets mit skandinavischem Akzent sprechende «Illegale» neugierige norwegische «Landsleute», die aus ihrer nationalsozialistischen Gesinnung keinen Hehl machen, mal alte Bekannte aus Lübeck – und selbst bei den Verabredungen, die er mit den ihm meistens fremden Mittelsmännern von der Arbeiterpartei vereinbart, fürchtet er «in jedem Genossen einen Verräter».
    Doch mehr noch ernüchtert ihn am Ende die politische Bilanz. Dass die Nazis ihr Regime deutlich gefestigt haben, bleibt ihm ebenso wenig verborgen wie der Frust in der Organisation. Fast jeder der in Fünfergruppen auftretenden etwa zweihundert Aktivisten, die für die SAP in der Hauptstadt die Stellung zu halten versuchen, vermittelt ihm desillusioniert stets das gleiche triste Bild: Von einer auch nur in Ansätzen halbwegs effektiven Subversion kann im weitgehend gleichgeschalteten

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