Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
Vom Netzwerk:
Berlin kaum mehr die Rede sein; statt neue Formen des Widerstands zu entwickeln, haben die Freunde genug damit zu tun, zu überleben.
    Im Meer der Hakenkreuzfahnen und einer von den NS-Strategen geschickt gesteuerten, allgegenwärtigen Aufbruchsstimmung, erinnert sich Brandt, sei er sich immer wieder «wie ein Aussätziger» vorgekommen – und dieses Gefühl zwingt ihn zum Umdenken. Hatte er ursprünglich gehofft, die überwältigende Mehrheit der Deutschen werde den Spuk bald beenden und die Arbeiteravantgarde dabei eine tragende Rolle spielen, erkennt er nach seinen Erfahrungen in Berlin, dass die Nationalsozialisten nicht nur fest im Sattel sitzen. Vor allem hält er jetzt auch einen zweiten Weltkrieg für unvermeidbar.
    Jedenfalls lassen die Berichte, die ihm die Gewährsleute aus den Rüstungsbetrieben liefern, kaum einen anderen Schluss zu, weshalb die Auslandsgruppen der Partei, die im tschechoslowakischen Mährisch-Ostrau eine sogenannte Familienfeier anberaumen, die Lage grundlegend neu einzuschätzen beginnen. Die beträchtlich reduzierte Schar der Delegierten, die sich zu ihrer letzten größeren Konferenz versammelt, verabschiedet sich von ihren Träumen vom raschen Umsturz und unterwirft sich den Realitäten. Um die Reste der Berliner Kader vor dem Äußersten zu schützen, erreicht der Genosse «Martin», dass die «Reichsleitung» aufgelöst und die Führung der versprengten Linkssozialisten künftig von Paris aus wahrgenommen wird.
    Der starke Mann ist nun endgültig der Altkommunist Jacob Walcher, der die SAP im Hinblick auf einen Krieg, den auch er für ziemlich wahrscheinlich ansieht, nach wie vor unbeirrbar an der Seite Moskaus verortet – und damit seinen Osloer Jungstar in zunehmende Zweifel stürzt. Schließlich gehören zu den großen Themen, die die marxistische Szene Europas in diesem deprimierenden Jahr 1936 erschüttern, seit August Stalins grässliche Schauprozesse, in denen der Kreml-Chef seine innerparteilichen Konkurrenten ausschaltet und dann ermorden lässt.
    In der ersten, 1960 von Leo Lania aufgezeichneten Biographie bemüht sich der Regierende Bürgermeister Willy Brandt mit Nachdruck darum, den damals noch skeptischen Landsleuten sein tiefes Entsetzen über den Skandal zu vermitteln: Eindringlich nennt er den roten Zaren eine Art Reinkarnation «Iwans des Schrecklichen», der außer der Stärkung seiner Macht «keinerlei ideelle Ziele anerkannte». Die «Abschlachtung» berühmter Generale und alter Bolschewiken habe ihn und seine Mitstreiter umso mehr aufgewühlt, als sie jäh alle Hoffnung begruben, die Sowjetunion könne im Kampf gegen den Nationalsozialismus «ein weltpolitischer Verbündeter werden». Ob er das in den dreißiger Jahren tatsächlich schon so deutlich sieht, bleibt letztlich unklar.
    Neben den niederschmetternden Nachrichten gibt es seinerzeit aber auch erfreulichere Entwicklungen. So kommt im Mai 1936 die erste «Volksfront» zustande, in deren Rahmen die französischen Kommunisten eine Mitte-links-Regierung unter dem Sozialisten Léon Blum im Parlament unterstützen – für Brandt, der sich gerade mal wieder in Paris aufhält, ein beglückendes Datum.
    Dass dieser Pakt nur möglich geworden ist, weil Stalin der Komintern 1935 erlaubt hatte, Koalitionen ihrer nationalen «Sektionen» mit Sozialdemokraten und anderen progressiven Kräften zuzulassen, nimmt er in Kauf. Die Perspektive einer linken Allianz erscheint ihm zunächst einmal wichtiger als die Frage, wie abhängig die kommunistischen Parteien von Moskau sind oder welche Gewaltorgien der sowjetische Diktator zu verantworten hat – und so denken auch viele seiner Freunde.
    Unter der Federführung des Lübecker Dichters Heinrich Mann gründet sich ein von Prominenten unterschiedlichster Couleur gestützter Ausschuss zur Vorbereitung einer «Deutschen Volksfront», der dringend vor Hitlers Kriegsgelüsten warnt. Auf einer Liste vereinigen sich Sozialdemokraten wie der ehemalige preußische Innenminister Rudolf Breitscheid mit orthodoxen Kommunisten vom Schlage Walter Ulbrichts und Wilhelm Piecks, während im Namen der SAP Willy Brandt dem Komitee beitritt.
    Dessen Urteil über den zusehends unheimlichen Nachbarn im Osten ist zu diesem Zeitpunkt noch hochambivalent. Einerseits beunruhigen ihn dort die «Rückschläge in der politischen Ordnung und fast unverständliche gesellschaftliche Veränderungen», andererseits, so gibt er zu bedenken, sei die Sowjetunion «das Land ohne Kapitalisten». Folglich

Weitere Kostenlose Bücher