Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
daran», räumt er da ein, «dass ich mich in meinen frühen zwanziger Jahren – auch in dem Glauben, mehr zu wissen, als ich wirklich wusste – zu einigem politischen Dilettantismus verleiten ließ». Dieser Versuchung sei er insbesondere in der ersten Zeit in Norwegen erlegen. Er habe dabei die Absicht verfolgt, den noch demokratisch verfassten Ländern Europas aus den «deutschen Fragen» und einer für die Arbeiterbewegung bitteren Lektion die angemessenen «Lehren» zu vermitteln.
Dass er mit seiner Botschaft, die er im Kern auch als Außenminister und Kanzler immer noch für gerechtfertigt hält, anfänglich deutlich über das Ziel hinausschoss, ist ihm nun «eher peinlich»: Die «eifernde Überheblichkeit», bedauert er in der Rückschau, «mit der man als Versprengter einer Armee, die keinen Ruhm an ihre Fahnen geheftet hatte, anderen beibringen wollte, wie sie Niederlagen vermeiden oder Schlachten gewinnen sollten», habe leider nur selten die in Skandinavien herrschenden Realitäten ins Kalkül gezogen.
Andererseits unterschlägt die späte Beichte, welche Skrupel ihn damals bald plagen. So erkennt er bereits im März 1935, als sich die NAP mit ihren gemäßigten politischen Aussagen zu einer Massenbewegung gemausert hat und im Lande die Macht übernimmt, dass auch eine auf Kompromisse bedachte Politik Erfolg haben kann: Die von der liberal-konservativen Bauernpartei tolerierte Minderheitsregierung unter dem Premierminister Johan Nygaardsvold legt ein derart arbeitnehmerfreundliches Sofortprogramm vor, dass er sein Verhältnis zu ihr grundlegend revidiert.
Seine Bedenken gegen den auf Ausgleich bedachten Kurs der norwegischen Sozialdemokraten schwinden nun umso mehr, je eingehender er sich mit der Struktur und historischen Entwicklung der «nordischen Demokratie» beschäftigt. Schritt für Schritt nähert er sich der auf «Freiheitlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und mitbürgerliche Solidarität» aufbauenden Strategie der NAP an und entfernt sich zugleich von der «Mot Dag». Was ihn bisher so in den Bann geschlagen hat, erscheint ihm jetzt als das «Scheitern des Konzepts einer hochmütigen Avantgarde».
Keine andere Verirrung ist dem mittlerweile einundzwanzigjährigen Brandt künftig suspekter als die «Anmaßung von Sekten» – aber zu einem klaren, auch die Selbstüberschätzung der Hardliner in seiner Partei abweisenden Schnitt fehlt ihm vorerst der Mut. Stattdessen entwickelt sich sein Hang zum Ambivalenten – er selbst spricht später von einer «zum Teil widersprüchlichen Terminologie». Weniger zurückhaltend ließe sich seine Haltung aber auch als eine Art politische Schizophrenie bezeichnen: Als «Norweger», zu dem er sich auf dem Osloer Außenposten hinsichtlich Mentalität und Habitus mehr und mehr wandelt, tendiert er zunehmend zu einer reformistischen Politik, während er sich als Deutscher weiterhin in der Pose des Revolutionärs gefällt.
Überraschen kann es da nicht, dass dieses von ihm kultivierte «Doppeldenken» zu Irritationen mit seinem Einsatzleiter führt. Nachdem er für das SAP-Blatt «Neue Front» einen Artikel verfasst hat, der der Regierung Nygaardsvold ein insgesamt positives Zeugnis ausstellt, schickt ihm «Jim» das Manuskript unverzüglich als misslungen zurück. Ob er wirklich glaube, dass in einer kapitalistischen Gesellschaft fundamentale Umwälzungsprozesse mit «parlamentarischen Mitteln» erreichbar seien, will der empörte Pariser Auslandschef wissen und verdonnert den Ziehsohn zur Höchststrafe: Er verlangt von ihm, das heikle Thema in der nächstfolgenden Nummer noch einmal abzuhandeln und sich dabei «prinzipiell auf einen anderen Boden zu stellen».
Doch der bis dahin so folgsame Genosse sperrt sich zum ersten Mal. Sosehr wohl auch er weiterhin daran festhält, dass sich die herbeigesehnte Arbeitermacht letztlich allein mit dem Umsturz der Eigentumsverhältnisse bewerkstelligen lässt, so spürbar beeinflusst ihn nun schon die «Schule des Nordens». Er hält plötzlich für möglich, dass es «unterschiedliche Wege zum Sozialismus» gibt, die anstelle «verordneten Glücks» pragmatische Lösungsmodelle nicht kategorisch ausschließen, und nimmt dafür auch den Vorwurf mangelnder Linientreue in Kauf. Walchers Order wird missachtet; Brandts Faible für ihn tut das aber zunächst keinen Abbruch.
Außerhalb Norwegens behält der deutsche Internationalist seinen revolutionären Impetus jedenfalls bei, und Gelegenheiten hat er dazu genug. Unter seinem
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