Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
viel milder aus als befürchtet. Welches Gewicht die in zahllose Länder zerstreute SAP von Anfang an ihrem Osloer Stützpunkt beimisst, wird Brandt schon nach wenigen Monaten klar. Bereits im Sommer 1933 erscheinen mit Walcher und dem Reichsgeschäftsführer Max Köhler nacheinander ihre beiden Spitzenleute vor Ort. Sie versuchen zum einen, das Maß der materiellen Hilfsbereitschaft der NAP zu erkunden, zum anderen geht es ihnen aber auch um grundsätzliche Fragen, die den politisch noch unerfahrenen Statthalter aus Lübeck bald erheblich in die Bredouille bringen.
Während sich der in Berlin immer stärker isolierte Köhler im Wesentlichen damit begnügt, zu den Genossen im europäischen Norden ein solides, auf Einvernehmlichkeit basierendes Verhältnis zu festigen, verfolgt der Chef der Pariser Exil-Partei eine deutlich davon abweichende, ziemlich konfliktträchtige Strategie. Nach seiner Analyse droht die NAP, im Zuge ihres Machtzuwachses einer schleichenden «Sozialdemokratisierung» zu erliegen, also glaubt er, sie dringend «erneuern» und unverhohlen zu einem Bündnis mit allen linkssozialistischen Opponenten drängen zu müssen.
Und weil der orthodoxe Marxist «Jim» seinen Lieblingsschüler in dieses Konzept einzubinden gedenkt, macht er ihn bei seinem Besuch mit der radikalsten Gruppierung bekannt, die sich in Oslo seit Mitte der zwanziger Jahre um Einfluss bemüht. Die firmiert unter dem Rubrum «Mot Dag» («Dem Tag entgegen») – eine ursprünglich zur Arbeiterpartei gehörende und danach ins kommunistische Lager abgedriftete Vereinigung überwiegend gutsituierter Intellektueller. Tatsächlich übt deren rigider Avantgardismus auf den ehrgeizigen Brandt eine so starke Anziehungskraft aus, dass er sich ihr unverzüglich anschließt.
So verstrickt sich der junge Deutsche in ein kaum mehr zu überschauendes Konglomerat von Funktionen und Netzwerken. Neben seinen Ämtern im antifaschistischen Widerstandskampf, die die Reichsleitung in Berlin und der Vorsitzende der Pariser Auslandszentrale offenkundig unterschiedlich interpretieren, empfiehlt er sich zusehends als norwegischer Nachwuchspolitiker – und das ebenfalls auf erkennbar widerspruchsvolle Weise: Er ist zwar Mitglied des Jugendverbandes AUF, Unterorganisation «Frihet» und als solcher automatisch Genosse der Mutterpartei, doch das hindert ihn nicht daran, zugleich einer betont NAP-kritischen Bewegung die Stange zu halten.
Worin liegt der Grund für diese «Vielfachexistenz»? Aus den umfänglichen Briefen, die Brandt an Walcher schickt, ergibt sich eindeutig, dass er mit der Nähe zu den «Mot Dagisten» zuvörderst dem neuen Ziehvater gefallen möchte, zugleich aber auch eine Angst zu kompensieren versucht. Statt in der Fremde «die eigenen Wunden zu lecken» und in einem fruchtlosen Emigranten-Gezänk «aufzugehen», will er dort mitmischen, «wo die Musik spielt», um möglichst vital am «wahren Leben» teilzunehmen.
Darüber hinaus sieht er sich, was die politischen Motive seines Engagements anbelangt, auf der richtigen Seite. Aus seiner Perspektive ist die 1897 gegründete NAP, die sich nach der Oktoberrevolution vorübergehend zu der von Moskau dominierten Komintern gesellte, um seit einiger Zeit mit der SAP im «Londoner Büro» linkssozialistischer Organisationen zusammenzuarbeiten, eine echte Bruderpartei – und darf man die nicht vor Fehlern bewahren? Unter Anleitung seines Pariser Mentors glaubt er allen Ernstes, die in den dreißiger Jahren immer stärker in die bürgerliche Mitte drängenden norwegischen Genossen von ihrem «Irrweg» abhalten zu müssen.
In erster Linie sind es wohl die traumatischen Erfahrungen im «Dritten Reich», die zwei ins Ausland geflüchtete Funktionäre einer deutschen Splittergruppierung auf die fixe Idee bringen, eine ungleich größere Partei im noch freien Europa nach ihrem Bilde zu formen. Doch so verständlich ihre Befürchtung sein mag, die NAP könne sich gegenüber den Kräften der extremen Rechten als ebenso kraftlos erweisen wie die Sozialdemokraten in der Weimarer Republik, so maßlos arrogant wirkt der Plan, den die beiden verabreden: Mit Hilfe der dogmatisch verengten «Mot Dag» und einem stabilen linken AUF-Flügel soll Brandt die Partei unterwandern, um sie dann Schritt für Schritt in eine «nordische SAP» umzumodeln.
Diese «norwegische Frage» erfasst danach nicht nur die Zirkel der deutschen Exilsozialisten. In einer langen Korrespondenz mit Jacob Walcher schaltet sich sogar
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