Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
der Revolution streitet, statt der zusehends vom Autoritätsverfall bedrohten amtierenden Regierung den Rücken zu stärken. Im krassen Gegensatz dazu steht die Entscheidung der Komintern, die sich einstweilen auf eine von der marxistisch-leninistischen Lehre abweichende opportunistische Marschroute versteift hat und insbesondere die in Spanien neutralen Westmächte nicht provozieren will. Also genügt den Kreml-Strategen zunächst einmal ein «Sieg der Demokratie», den sie in Gestalt einer «Volksfront» anstreben – und wer immer diesem Beschluss zuwiderhandelt, wird von der Sowjetunion, die das Land mit Agenten ihrer gefürchteten Geheimpolizei NKWD überschwemmt, rigoros zur Verantwortung gezogen.
So eindeutig sich Brandt vom stalinistischen Terror distanziert und im Kern seiner POUM verbunden fühlt, so nüchtern neigt er, was die Prioritäten der im linken Spektrum verfolgten Ziele anbelangt, der zwar am Moskauer Gängelband operierenden, dafür aber disziplinierten spanischen KP zu. Wer die für einen Krieg leider nötigen Voraussetzungen nicht erfülle, werde unweigerlich den Faschisten den Boden bereiten, kritisiert er in Briefen an die SAP-Führung in Paris den realitätsfernen Romantizismus der katalanischen Genossen: Eine Einbindung ihrer Freischärler-Verbände in ein straff organisiertes Heer, das sich einer einheitlichen Kommandogewalt unterwerfe, sei deshalb dringend geboten.
Kein Wunder, dass er damit zwischen alle Stühle gerät. Zwar will Brandt nicht verraten, was er noch immer enthusiastisch «die proletarischen Prinzipien» nennt, aber ebenso wichtig ist ihm eine der aktuellen Situation angemessene Bündnispolitik. Ohne den Schulterschluss mit Kleinbürgern und Bauern würden sich die bestehenden Zustände eher verfestigen, predigt er den radikalen «Graswurzel-Sozialisten» und nimmt mannhaft deren wachsende Zweifel an seinem Pragmatismus hin.
Der Auftrag Walchers, die unter Trotzkismus-Verdacht stehende POUM auf Komintern-Kurs zu trimmen, lässt sich so jedenfalls nicht verwirklichen. Im Gegenteil: Als einzige linke Partei in Spanien verdammt die «Partido Obrero de Unificacion Marxista» die Moskauer Schauprozesse und wird im Mai 1937 von den Stalinisten, die in Barcelona inzwischen ein deutliches Übergewicht erreicht haben, brutal bestraft. Nach tagelangen Zusammenstößen im republikanischen Lager, denen – so Brandt 1960 – «ein Rachefeldzug der Kommunisten gegen ihre Widersacher in der revolutionären Arbeiterbewegung» folgt, verlieren mehrere hundert Barrikadenkämpfer das Leben.
In einer unter dem Eindruck der blutigen Auseinandersetzungen verfassten Broschüre erregt sich der SAP-Emissär wenige Wochen später über die «wahnwitzige Zielsetzung» der Sowjetunion, «alle Kräfte zu vernichten, die sich ihr nicht gleichschalten wollen», aber eine starke Minderheit in den Kreisen der «Unabhängigen Sozialisten» misstraut seiner Empörung. Auf einer Tagung des «Londoner Büros» sieht sich der weitgehend isolierte Deutsche von einer Gruppe «hasserfüllter fraktioneller Scherbenrichter» angeklagt, die ausgerechnet in ihm seiner militärstrategischen Vorstellungen wegen unverblümt einen Helfershelfer der Stalinisten vermuten.
Nach den Erlebnissen im spanischen Inferno blickt er so auf «lehrreiche, überwiegend unglückliche Monate» zurück. Mit den moskautreuen Kommunisten, weiß Brandt nun aus eigener, bitterer Erfahrung, verbietet sich jede Form von Kooperation, und als er den in der POUM dominierenden «ultralinken Subjektivismus» kritisiert, stößt ihn das unproduktive «Emigrantengezänk» ab, das in seiner Pariser Parteileitung um sich greift.
Da ist es tröstlich, notiert er erleichtert, wieder in Oslo arbeiten zu dürfen. Obschon er von seinem revolutionären Drang noch nicht ganz lassen mag, mehren sich die Anzeichen für einen spürbaren pragmatischen Schub, und immer stärker scheint ihn nun zu beschäftigen, was er den im Ausland werkelnden linkssozialistischen Kadern in einem Artikel für die «Marxistische Tribüne» ins Stammbuch schreibt: Man möge stets daran denken, «dass für den einfachen Menschen das Leben nicht nur aus ‹Ismen› besteht, sondern aus Essen, Schlafen, Fußballspielen, Kanarienvögeln, Schrebergarten und anderen schönen Dingen …».
Immerhin, so macht Willy Brandt in seinen «Erinnerungen» glauben, sei er sich nach den Eindrücken, die er in Berlin und Barcelona gewonnen habe, plötzlich sicher und «nicht länger ein
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