Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
der aus der Sowjetunion verbannte und an einem geheimen Ort in Frankreich lebende Leo Trotzki in den Disput ein, und der SAP-Verbindungsmann in Oslo gerät so immer stärker in den Sog radikaler Strömungen. Er will seiner «Pflicht» genügen, «alles zu stützen und voranzutreiben, was der Herausbildung einer starken und bewussten Opposition» im Lande dient.
Mit Genossen zu paktieren, die einen von Kompromisslosigkeit gekennzeichneten proletarischen Weltherrschaftsanspruch vertreten, hält er jedenfalls in den ersten beiden Jahren seiner Emigration für dringend vonnöten. Neben Walcher und dessen Gefährten, dem «Mot-Dag-Oberguru» Erling Falk, fasziniert ihn vor allem der nach Norwegen geflüchtete Analytiker und Marxist Wilhelm Reich, ein Schüler Sigmund Freuds, mit dem er bald einen intensiven Umgang pflegt. Dem Autor der «Massenpsychologie des Faschismus» verdankt der von Kindheitsproblemen beladene Arbeiterjunge aus Lübeck nicht nur einen deutlich erweiterten Politikbegriff, sondern auch Einblicke «in die Dunkelkammer der Seele».
Doch so augenscheinlich er sich in dieser Phase immer wieder nach potenten Ersatzvätern sehnt, noch mehr geht es Brandt schon da um sein eigentliches Projekt. Seit der Ablösung von «Papas» SPD und seinem unverminderten Argwohn, den er der unter sowjetischem Kuratel stehenden Komintern entgegenbringt, sieht er mit einigen Mitstreitern die Zukunft einer «wahrhaft kommunistischen Bewegung» allein in einem dritten Weg. Zu diesem Zweck will er mit einigen ähnlich denkenden Gruppen aus Westeuropa zunächst einmal eine unabhängige «Jugendinternationale» aus der Taufe heben, deren Gründungsversammlung ihm aber beinahe zum Verhängnis wird.
Die Präliminarien der Konferenz, die im Februar 1934 im holländischen Künstlerdorf Laren stattfindet, sind noch nicht beendet, als der mit den Nationalsozialisten sympathisierende Bürgermeister die Polizei aufmarschieren lässt. Die vier aus dem Reich eingereisten SAP-Abgesandten übergibt man in Handschellen der Gestapo, während sich der Delegierte Frahm nervenstark aus der Affäre zu ziehen versteht. Anstelle seines noch gültigen deutschen Reisepasses zeigt er geistesgegenwärtig die in einer Schutzhülle verwahrte Osloer «Daueraufenthaltserlaubnis» vor und unterhält sich dabei so demonstrativ mit seinen «Frihet»-Kumpels, dass man ihn als «Norweger» über die Grenze nach Belgien abschiebt.
Die Jugendinternationale konstituiert sich nun in Brüssel, und der hochambitionierte Deutsche übernimmt spontan einen weiteren strapaziösen Job. Ihm obliegt die Redaktion eines «Internationalen Jugend-Bulletins», eines in mehreren Sprachen herausgegebenen Mitteilungsblatts, das sich in vulgärmarxistisch «wortstarken Texten» die Aktionseinheit der Arbeiterklasse zum Ziel setzt. Doch je enger sich Brandt bei seiner neuen Aufgabe organisatorisch und finanziell an die puristisch-fanatische Clique von der «Mot Dag» anlehnt, desto deutlicher leiden die ohnehin schon belasteten Beziehungen zur NAP.
Wie er später zugesteht, sind es nicht die besten Jahre seiner politischen Karriere. Um den Mentoren Walcher und Falk zu imponieren – aber sicher auch aus eigenem Antrieb –, versucht er der zusehends pragmatischen norwegischen Mutterpartei das ihm unerlässlich erscheinende «linke Bewusstsein» einzupflanzen. Besessen von seiner Mission, die Genossen auf den vermeintlich einzig möglichen Pfad der Tugend führen zu müssen, schreckt er nicht einmal vor konspirativen Aktionen zurück und instrumentalisiert die Opponenten des Jugendverbandes AUF für seine Zwecke.
Als ihn der Vorsitzende Oscar Torp wegen solcher «Fraktionskämpfe» zur Rede stellt, bestreitet er ebenso verstockt wie wahrheitswidrig seine Mitgliedschaft bei der «Mot Dag» und verhält sich auch sonst wenig loyal. Statt der NAP und vor allem deren Chef, der ihn immerhin mehrfach vor der Ausweisung gerettet hat, für die Gastfreundschaft dankbar zu sein, versteigt sich der selbsternannte marxistische Gralshüter zu blindwütigen Attacken. So warnt er etwa pathetisch vor «Kapitulationstendenzen», und ohne Belege dafür liefern zu können, entdeckt er in der Manier eines orthodoxen Kommunisten bei «fast allen kleineren und größeren Bonzen» den vermeintlichen fatalen Drang, heimlich «faschistischen Ideologien» anzuhängen.
Erst als betagter Mann wird sich Willy Brandt mit der nötigen Selbstkritik an seinen Tiraden zu Wort melden. Es gebe «keinen Zweifel
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