Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
später in der Bundesrepublik in konservativen Kreisen auf ewig anhängt, sehen in den Kriegsjahren die in Stockholm vertretenen amerikanischen Diplomaten ganz anders. Der Gesandte Herschel V. Johnson ist von den Debatten und Memoranden, die der junge Publizist in seinem Zirkel initiiert, so angetan, dass er den Extrakt der jeweiligen Papiere an das State Department nach Washington schickt. Es handele sich bei dem Autor, kommentiert er in einer seiner Depeschen, um einen «klugen und gewissenhaften Beobachter der deutschen Szene», der in seinem Geburtsland noch eine wichtige Rolle spielen werde.
Diese Wertschätzung freut Brandt umso mehr, als sie ihm spürbar die Arbeit erleichtert. Zu den Botschaftern eines anderen und besseren Deutschlands zu zählen, entspricht von Anfang an seinem Selbstbild, und er scheut keine Mühen, die Korrespondenten etwa von «Time» und «Life» für die Aktivitäten im Untergrund zu interessieren. Schon früh versucht er außerdem, die über längere Zeit noch unschlüssigen Vereinigten Staaten zu einem Waffengang gegen Nazi-Deutschland zu bewegen.
Um in Stockholm die dafür erforderlichen Kontakte herzustellen, bedarf es keines ausgeprägten konspirativen Talents. An den Treffen der linkssozialistischen und sozialdemokratischen Emigranten beteiligen sich häufig Genossen aus den Ländern der Alliierten, zum Beispiel der «Internationalen Transportarbeiter-Föderation» aus London oder Gewerkschafter der USA, die Verbindungen zu den Geheimdiensten ihrer jeweiligen Staaten unterhalten. Immerhin erweist sich die schwedische Metropole als Tummelplatz zahlloser Diplomaten, Geschäftsleute und Agenten, die fleißig Nachrichten sammeln – inklusive jener aus Hitlers Reichssicherheitshauptamt und von Stalins NKWD.
Auf Empfängen und Partys, zu denen Handelsvertreter oder Militärattachés einladen, ist der sprachbegabte Deutschnorweger stets ein gerngesehener Gast; und wenn er etwa in der sowjetischen Gesandtschaft zu Persönlichkeiten wie der einstigen Mitstreiterin Lenins, Alexandra Kollontai, Fühlung aufnimmt, gilt das nicht zwangsläufig als anstößig. Jeder versucht zu nutzen, was er für wertvoll hält – allgemein zugängliche Quellen werden dabei ebenso ausgewertet wie Informationen aus vertraulichen Gesprächen, ganz unabhängig von deren Herkunft. In Anbetracht des kaltschnäuzigen Russlandfeldzugs sieht Brandt die UdSSR und deren Bedeutung für eine künftige Friedensordnung in Europa zudem nicht mehr ganz so kritisch wie nach seinen Erfahrungen in Spanien.
In der von extremer Kommunistenfurcht begleiteten frühen Bonner Republik werden diese Kontakte jedoch als Beleg dafür gesehen, dass sich der Emigrant während seiner Stockholmer Zeit in erster Linie als Spion Moskaus betätigt habe. Noch sieben Jahre nach seinem Tod findet dieser Verdacht neue Nahrung. 1999 behauptet der ehemalige KGB-Oberst Wassili Mitrochin, ihm seien Akten zu Gesicht gekommen, aus denen eine 1942 über neun Monate andauernde Zusammenarbeit mit Mittelsmännern des NKWD hervorgehe. Der spätere Kanzler habe dabei das Angebot unterbreitet, den Sowjets wichtige Details über Truppenbewegungen der Wehrmacht in Norwegen zu liefern, und sei fortan unter dem Decknamen «Poljarnik» geführt worden.
Eine gewisse Brisanz gewinnen die Enthüllungen auch daraus, dass das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» kurz darauf aus einem Dossier der Säpo zitiert und den unermüdlichen Journalisten ebenfalls als geschätzten Informanten beschreibt. Allerdings war die schwedische Sicherheitspolizei nur seinen Beziehungen zum britischen Geheimdienst SIS und einer mit Kriegsbeginn von Churchill gegründeten «Special Operations Executive» (SOE) auf der Spur; von anderweitigen Verbindungen ist in ihren Unterlagen keine Rede.
Nach dem in Stockholmer Archiven verwahrten Material fungiert dabei die «Internationale Transportarbeiter-Föderation» als Klammer. Mit dieser militanten Gewerkschaft hat Brandt bereits in der Frühphase seines norwegischen Exils zu tun. Über deren Londoner Zentrale liefert der SAP-Funktionär zunächst der SOE Situationsberichte aus dem Emigrantenmilieu, die zum größten Teil von der BBC verwertet werden, um dann ab Ende 1940 seinen Aktionsradius zu vergrößern: Von da an versorgt er für ein monatliches Honorar von hundertfünfzig Kronen auch die in New York beheimatete «Overseas News Agency» (ONA), eine Tochtergesellschaft der «Jewish Telegraphic Agency», die vom SIS finanziert
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