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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
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«Doppelexistenz» zu tun haben. Als ihm Trygve Lie, der Außenminister der nach London emigrierten norwegischen Exilregierung, vorwirft, dem Geburtsland gegenüber zu nachsichtig zu sein («Blut ist eben doch dicker als Wasser»), bekennt sich der Gescholtene in einem von schwedischen Zeitungen abgedruckten «offenen Brief» zu seiner vertrackten Situation: Sosehr er sich «durch tausend Fäden» mit der neuen Heimat verbunden fühle, trage er gleichzeitig ein besseres, das von ihm nie aufgegebene «andere Deutschland» im Herzen.
    Angesichts des nun sicheren Zerfalls des NS-Regimes verstärkt er seine Bemühungen, über die «Kleine Internationale» den Umgang der Alliierten mit den unterlegenen Landsleuten zu beeinflussen. Insbesondere hält er für unabdingbar, dass den befreiten Deutschen von den künftigen Siegermächten trotz aller Schuld das Recht zugestanden werden solle, selbst über ihr weiteres Schicksal zu bestimmen, und betont, dass die «demokratische Neuerziehung im Wesentlichen ihr eigenes Werk» sein müsse.
    Die kapitalistische Gesellschaftsordnung hält der stramme Sozialist indessen weiterhin für den falschen Rahmen. Um «die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit von der politischen auf die ökonomische Ebene» zu übertragen, baut er noch immer auf eine linke «Einheitspartei», die sich zwar den bürgerlich-parlamentarischen Regeln verpflichtet fühlt, dabei aber die Utopie einer «wahren Volksherrschaft» im Blick behält. Als treibende Kraft komme dafür allein eine mit den Gewerkschaften paktierende Sozialdemokratie nach skandinavischem Muster in Frage. Bei diesem Befund kann es nicht überraschen, dass die verbliebenen Mitglieder der ohnedies bereits weitgehend zerstreuten Stockholmer SAP-Gruppe im Herbst 1944 ihren Eintritt in die Exil-SPD erklären.
    Willy Brandt, der «verlorene Sohn» und zuweilen hitzköpfige Spalter, kehrt nach dreizehn Jahren zu seinen Wurzeln zurück – und sosehr er herauszustreichen versucht, nicht nur er habe sich geändert, sondern in gleicher Weise auch seine Partei, gesteht er mit diesem Schritt letztlich seinen Irrtum ein: Das in der Geschichte der Arbeiterbewegung immer wieder mal unternommene Experiment, zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten den ersehnten dritten Weg zu finden, ist auch ihm gründlich missglückt. Während der schwer enttäuschte Jacob Walcher den Kurswechsel im fernen New York wütend als «Schlag ins Gesicht» verurteilt, verabschiedet sich Brandt zugleich von der einst mit Verve erhobenen Forderung, in einem neuen, geläuterten Deutschland die im November 1918 versäumte Revolution «nachzuholen». Dieses Postulat, korrigiert er sich nun kleinlaut, sei falsch.
    Wie wenig sich Wunschdenken und Realität bisweilen miteinander in Einklang bringen lassen, wird ihm vor allem nach dem Selbstmord Hitlers klar, von dem er erfährt, als er am Abend des 1. Mai 1945 in einem Stockholmer Restaurant einen Vortrag hält. Bis zuletzt hat der Antifaschist darauf gesetzt, die im Lande verbliebenen Reste der von ihm stets bewunderten Opposition würden sich am Ende noch gegen ihren großen Peiniger auflehnen. Stattdessen erlebt er jetzt einigermaßen erschüttert, in welcher unfassbaren Kläglichkeit das «Tausendjährige Reich» dahingeht.
    Noch schmerzlicher berührt ihn nach der Kapitulation jedoch die jähe Erkenntnis, dass die Sieger fast vollständig auf die Hilfe der Emigranten und Widerstandskämpfer verzichten. Auf der Konferenz, die im Juli in Potsdam stattfindet, sprechen die Alliierten von einer in Kollektivschuld verstrickten «Feindmacht» und verbieten jede politische Tätigkeit in Deutschland, ganz gleich von welchen Gruppen sie auch getragen wird. Noch nach Jahren beklagt Willy Brandt bitter, dieses Verbot habe sich «in seinen objektiven Wirkungen» gerade gegen solche Kräfte gerichtet, deren Mitarbeit an einem Neuaufbau demokratischer Strukturen dringend notwendig gewesen sei.
    Was in der Bundesrepublik später oft als «Stunde null» bezeichnet wird, ist für ihn eine Zeit «zwischen Baum und Borke». Dass der Kriegsschluss seiner bisherigen beruflichen Existenz den Boden entzieht, lässt sich dabei noch am ehesten ertragen. In Norwegen, wo nun unangefochten die NAP regiert, hat er sich in der Arbeiterpartei längst einen Namen gemacht und verfügt zudem über so viele ausgezeichnete persönliche Kontakte, dass er dort auf eine sichere Karriere hoffen darf.
    Doch gilt das nicht ebenso für seine ursprüngliche Heimat?

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