Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
für Schritt anbahnt, ist zunächst keine leichte Beziehung. Sosehr sich beide «zueinander hingezogen» fühlen, sehen sie sich andererseits noch gebunden, aber dann will es das Schicksal, dass der ebenfalls im Widerstand erprobte «Brum» Bergaust unheilbar erkrankt und bald darauf stirbt.
Nach dem Urteil gemeinsamer Freunde gibt die gemütvolle ehemalige und nach subversiven Aktionen daheim ebenfalls in die Emigration gezwungene Jungsozialistin nun ihrem neuen Gefährten die ersehnte Nestwärme – Brandts Erinnerungen zufolge ist es allerdings auch eine von Anfang an stark politisch geprägte Liebe. So gefällt ihm vor allem Ruts «Herkunft aus der Bewegung und die Abscheu vor jeder Art von Gewaltherrschaft», während sie wiederum sein mit angenehmen Umgangsformen einhergehendes antifaschistisches Stehvermögen bewundert.
In diesem Frühjahr 1944, als die beiden schon ein Paar sind, darf sich der zunehmend gefragte Asylant tatsächlich als wichtige Figur empfinden. Welchen Ruf er sich mittlerweile erworben hat, beweist ihm etwa der Besuch des Oberstleutnants Theodor Steltzer, der in Norwegen für das Transportwesen der deutschen Besatzungstruppen zuständig ist und eine Dienstreise in die schwedische Hauptstadt zum Anlass nimmt, sich dem ausgebürgerten Landsmann anzuvertrauen. Als Gewährsmann des mehrheitlich konservativen «Kreisauer Kreises» weiht er ihn in die Überlegungen der Widerstandsgruppen im Reich ein und berichtet auch von Julius Leber, der nach einigen Jahren im KZ einer Verschwörerorganisation in Berlin angehört.
Der sichtlich bewegte Brandt lässt dem ersten großen Vorbild in seiner politischen Karriere Grüße überbringen, und der ehemalige Ziehvater meldet sich über einen anderen Opponenten prompt zurück. Wenige Tage nach der Landung der Alliierten in der Normandie erscheint im Juni der Legationsrat im Auswärtigen Amt, Friedrich Adam von Trott zu Solz, in Stockholm, um bei Amerikanern, Briten und Russen deren mutmaßliche Reaktion auf einen Sturz Hitlers durch die Fronde um Claus Schenk Graf von Stauffenberg zu eruieren. Der ortsansässige Emigrant soll ihm dabei helfen und insbesondere seinen Draht zu den sowjetischen Diplomaten nutzen.
Der bestens informierte Freiherr, der die Beseitigung des Diktators für die nächsten Wochen in Aussicht stellt, hat aber auch Brandt etwas zu bieten. Detailliert breitet er vor seinem Gesprächspartner mögliche Szenarien einer europäischen Friedensordnung aus und konfrontiert ihn dann unter Berufung auf Leber mit einer überraschenden Anfrage: Ob er bereit sei, für die künftige Regierung in Berlin eine noch näher zu bestimmende Funktion zunächst in Skandinavien zu übernehmen. Der «deutsche Norweger» bedankt sich und entwickelt gleichsam im Gegenzug seine eigenen Vorstellungen: Ein Kabinett der Militärs wird von ihm ebenso strikt verworfen wie die Teilhabe des nach seiner Auffassung gründlich desavouierten Bürgertums an der Macht. Wirklich gesunden könne das Land nur, wenn in ihm die Arbeiterschaft und an ihrer Seite als fortschrittlich ausgewiesene Liberale und Intellektuelle die führende Rolle spielten. Nach einem Staatsstreich der Generäle sei mit ihm nicht zu rechnen – es sei denn, unter einem Kanzler Julius Leber, dem selbst Stauffenberg, wie ihm der Besucher andeutet, durchaus Chancen einzuräumen scheint.
So versöhnt sich Brandt mit seinem Idol aus schwierigen Lübecker Jugendtagen zumindest auf indirektem Weg. Zum Zeichen des guten Willens schaltet er den NAP-Granden Martin Tranmäl ein, der sich auch unverzüglich daranmacht, ein Treffen des Emissärs aus Berlin mit Alexandra Kollontai zu arrangieren, doch in letzter Minute zerschlägt sich der Plan. Er befürchtet in der sowjetischen Vertretung ein Leck, und am 20. Juli, der als einer der Schicksalstage in die Geschichte der Deutschen eingeht, erledigen sich die Träume, dem verheerenden Zweiten Weltkrieg womöglich noch eine Wende zu geben, mit dem gescheiterten Attentat auf Hitler endgültig. Trott wird fünf Tage später verhaftet, Leber ist der Gestapo schon Anfang des Monats in die Hände gefallen, nachdem die kommunistische Widerstandsgruppe, zu der er ebenfalls Kontakt hielt, von einem Spitzel verraten wurde. Den Adelsherrn hängen die Nazis im August, der Sozialdemokrat stirbt im Januar 1945 am Galgen.
Für Willy Brandt sind das besonders bedrückende Monate. Je trostloser die Lage im Reich, desto häufiger quälen ihn Fragen, die mit seiner
Weitere Kostenlose Bücher