Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Redakteur nun auch wirklich neutral?», wird er bei einem weiteren Zwischenfall misstrauisch gefragt, als man ihn in einem Straßencafé kurzfristig festnimmt.
Offiziell hat er allerdings keine Schwierigkeiten mehr. Zug um Zug erweitert der Agenturjournalist seinen Aktionsradius; nach dem Krieg bescheinigt ihm das Osloer «Arbeiderbladet», er sei in Stockholm einer der «wichtigsten Sprecher» Norwegens gewesen. Die Berichte, die Brandt mit einem schwedischen Kollegen verfasst, verkaufen sich bestens, er wirkt an Büchern und Broschüren mit und fühlt sich, nachdem es ihm gelungen ist, Frau und Kind nachzuholen, immer stärker der skandinavischen Lebensart zugetan. Es sind nicht die schlechtesten Tage in seinem turbulenten Dasein. Nachdem Carlota Thorkildsen eine Anstellung in der Presseabteilung der norwegischen Gesandtschaft gefunden hat, kann sich das frisch vermählte Paar eine seinen Ansprüchen genügende Wohnung leisten und lädt häufig ein. «Es wird dort am Abend gern gelacht und gern gesungen und natürlich auch getrunken», beschreibt Bruno Kreisky, der sich bei den Frahms häufig aufhält, deren ausgeprägte Gastfreundschaft. Politisch die Ärmel aufzukrempeln und fröhliche Feste zu feiern, lässt sich für den munteren Hausherrn durchaus vereinbaren.
Doch dann kommt der 22. Juni 1941, Hitlers Überfall auf die Sowjetunion – und mit ihm das jähe Erschrecken: Wird der wahnwitzige deutsche Diktator, der an der Spitze seiner faschistischen Bundesgenossen Mussolini und Franco bereits den größten Teil des Kontinents eisern im Griff hält und sich nun einen Teufel um den Nichtangriffspakt mit Stalin schert, ausgerechnet die Schweden weiter verschonen? Für Brandt, dem gesicherte Erkenntnisse darüber vorliegen, dass ihn die Gestapo weiterhin aufzuspüren versucht, ist das eine Existenzfrage. Mehrere Wochen trägt er sich mit dem Gedanken, seinem Ziehvater Jacob Walcher zu folgen, der sich nach der Eroberung Frankreichs in die Vereinigten Staaten abgesetzt hat. Er stellt bei der US-Botschaft in Stockholm einen Einreiseantrag, lässt den Plan aber rasch wieder fallen. Seine Mission glaubt er besser an der «skandinavischen Heimatfront» erfüllen zu können.
Die SAP und zumal deren Jugendverband spielen für ihn in jenem spannungsgeladenen Sommer kaum noch eine Rolle. Zum einen sind die Linkssozialisten durch die Streitsucht ihrer Mitglieder weitgehend gelähmt, zum anderen sucht der insoweit desillusionierte Brandt, der jetzt fast dreißig Jahre alt ist und sich längst einen Ruf als kompetenter Exilpolitiker erworben hat, nach Wegen aus der doktrinären Enge. Die findet er von da an mehr und mehr in einem Kreis vergleichsweise undogmatischer Gesinnungsgenossen, die sich um Martin Tranmäl und Gunnar Myrdal scharen und als «Studienzirkel» im Rahmen des schwedischen Arbeiterbildungsverbandes zu regelmäßigen Diskussionsrunden treffen.
Neben den prominenten Skandinaviern und Vertretern aus dem deutschsprachigen Raum, von denen einige in den Jahrzehnten nach dem Krieg in höchste Staatsämter aufsteigen, ergreifen dort auch Franzosen, Polen und sogar ein amerikanischer Gewerkschafter das Wort – eine «Kleine Internationale», wie die bunt zusammengewürfelte Gruppe deshalb bald etwas zu dick aufgetragen heißt. Zu ihren Aufgaben gehört, die sich dramatisch verschärfende aktuelle Weltlage zu analysieren und «Friedensziele der demokratischen Sozialisten» in möglichst lesbare Thesen zu fassen, um sie anschließend den in Stockholm akkreditierten Medien schmackhaft zu machen.
Willy Brandt übernimmt die Funktion eines ehrenamtlichen Sekretärs und nutzt die Chance, seine eigenen Überlegungen in den «Studien» unterzubringen und sich als programmatisch versierter Vorformulierer in Szene zu setzen. Dabei beweist der allenfalls noch rudimentär dem Marxismus verhaftete Schriftführer – wie ihm wiederum der Freund und damals bekannteste Repräsentant Österreichs, Bruno Kreisky, nachrühmt – ein beachtliches Geschick, die Kräfte zu bündeln. Wo immer er einen unfruchtbaren Theoriestreit wittert, greift er moderierend ein. Ihm geht es in erster Linie um einen der Situation angemessenen «konstruktiven Sozialismus».
Die für ihn zentrale Frage («Was kommt nach Hitler?») beschäftigt den leidenschaftlichen Politiker derweil umso mehr, je deutlicher sich das Ende des Diktators abzeichnet. Hatten der britische Premierminister Winston Churchill und der US-Präsident Franklin D. Roosevelt im
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