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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
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August 1941 in der «Atlantik-Charta» noch feierlich verkündet, das Selbstbestimmungsrecht aller Völker zu respektieren, und jegliche territoriale Veränderungen abgelehnt, «die nicht im Einklang mit den in voller Freiheit ausgedrückten Wünschen der betroffenen Völker stehen», sieht es zwei Jahre später für Deutschland sehr viel düsterer aus: Seit einem im Januar 1943 in Casablanca anberaumten Treffen pochen die beiden westlichen Alliierten nun auf eine bedingungslose Kapitulation des «Dritten Reichs».
    Drei Monate danach präsentiert die «Kleine Internationale» auf einer öffentlichen Kundgebung, die immerhin Hunderte von Interessenten aus vierzehn Ländern ins Stockholmer «Medborgahuset» lockt, ihre Vorstellungen. In einer maßgeblich von Brandt beeinflussten Resolution warnt der Zirkel vor der Gefahr, dass der Krieg gegen den NS-Staat militärisch zwar gewonnen, aber politisch dennoch verloren werden könne. Anstelle einer von unproduktiven Rachegedanken bestimmten künftigen Friedensordnung sei der Wille zum gemeinsamen Wiederaufbau unerlässlich.
    Energisch zieht Brandt in jenen Tagen insbesondere gegen den englischen Diplomaten Sir Robert Vansittart zu Felde, der im Nazi-Regime «die logische Konsequenz der deutschen Geschichte, des Deutschen in excelsis» erblickt und in immer neuen Pamphleten verlangt, das Land dieser vermeintlich unverbesserlichen Barbaren aus der Völkerfamilie auszustoßen. Solche Tiraden, kommentiert der Emigrant, seien «Rassenpolitik mit umgekehrtem Vorzeichen».
    Dabei gründet sich seine gleichzeitige Zuversicht, dass sich letztlich doch noch die Vernunft durchsetzen und über sein Geburtsland nach den Prinzipien der Atlantik-Charta entschieden werde, auf einer Prämisse: Alle Betrachtungen, die er in immer kürzeren Intervallen wortreich zu Papier bringt, verbinden sich mit der Erwartung eines Fortbestands des angelsächsisch-sowjetischen Bündnisses. Und obwohl er sich über den menschenverachtenden Stalinismus längst im Klaren ist, hofft er, die Alliierten würden von einer Zerschlagung Deutschlands absehen. Dass er sich in diesem Zusammenhang zumindest zeitweilig viel zu blauäugig verhält, wird sich bald herausstellen. Im Herbst 1943 schließt sich der Kreml dem Casablanca-Beschluss der USA und Großbritanniens an – und auch die zweite Wunschvorstellung Willy Brandts, die nach dem Krieg offenen Fragen in die Hände einer im Kern intakten «Völkerfamilie» zu legen, stößt sich zunehmend an den Realitäten. Je näher die Anti-Hitler-Koalition ihrem Ziel kommt, desto deutlicher beginnt sie zu bröckeln.
    Noch will der emsige Analytiker diese Entwicklung allerdings nicht wahrhaben. Denkmodelle, die in seinem «Studienkreis» darauf hinauslaufen, die Zerrüttung im Verhältnis der Alliierten auszunutzen oder Ost und West sogar gezielt gegeneinander auszuspielen, sind ihm suspekt, und selbst wenn er einerseits einräumt, dass sich eine vorübergehende Aufteilung Deutschlands in mehrere Besatzungszonen womöglich kaum noch verhindern lässt, bleibt er andererseits weiterhin optimistisch. «Tendenzen, die zu einer dauernden Zersplitterung führen könnten», tritt er mit der Hoffnung auf ein in Bälde vereintes Europa entgegen – in einer Phase, in der Goebbels den «totalen Krieg» ausruft, eine ziemlich kühne Vision.
    Doch der Parteifunktionär baut auf die positive Wirkung der Kooperation. Würden Washington, London und Moskau, wie er es gerne möchte, nach dem Sieg beieinanderbleiben – und damit auch auf dem Kontinent präsent –, wäre seiner Einschätzung zufolge nicht nur eine allmähliche Demokratisierung der Sowjetunion unvermeidlich. Darüber hinaus könnten in Sonderheit die Deutschen, sofern sie Staat und Gesellschaft im Wesentlichen einer sozialistischen Sammlungsbewegung anvertrauten, ihre unselige Vergangenheit hinter sich lassen.
    Willy Brandt – nicht frei von Träumen, aber auch damals schon pragmatisch. So wichtig ihm das Selbstbestimmungsrecht ist, so wenig verliert er sich in einem schmerzlich konkreten Detail in Illusionen. Weil er aus amerikanischen und westlichen Zeitungen, die es in der schwedischen Metropole reichlich zu kaufen gibt, den Eindruck gewinnt, eine Westverschiebung Polens sei wohl schwerlich zu umgehen, hält er eine mit erträglichem Gebietsaustausch einhergehende Begradigung der Grenzen für diskutabel. Die «Ostpreußische Landsmannschaft» wird ihn dafür noch 1980 als «Erfinder der Vertreibung» geißeln.
    Was ihm

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