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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
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aufrichtige Bereitschaft zur Loyalität angezweifelt werden, halte er es für «besser, wir sprechen nicht mehr von diesem Projekt».
    Was Schumacher am Ende veranlasst, ihm den Zuschlag zu erteilen, wird der Bewerber nie erfahren. Seine demonstrative Entschlossenheit zahlt sich jedenfalls aus, und selbst das offenkundige Misstrauen, mit dem ihm des Emigrantengezänks wegen vor allem der stellvertretende Parteichef Erich Ollenhauer noch mehrere Jahre lang begegnet, kann dem agilen Berlin-«Botschafter» kaum etwas anhaben. Als Vertrauter des mächtigen Vorsitzenden bleibt ihm nicht nur die in der SPD übliche Ochsentour erspart – es eröffnen sich für den Quereinsteiger auch von Anfang an ungewöhnliche Spielräume.
    Darüber hinaus tut dieser Neuzugang der Partei allein schon deshalb gut, weil er mit seinen gerade mal fünfunddreißig Jahren im erweiterten Führungszirkel der ergrauten und durch Krieg oder Haft zum Teil gesundheitlich schwer angeschlagenen Genossen eine Ausnahmeerscheinung darstellt. In seinem politischen Selbstverständnis wie vom ganzen Habitus her ist der sicher auftretende Kollege ein früher Vorläufer jener Riege der Modernisierer, die der maroden Sozialdemokratie nach einer langen Phase der Stagnation zum Durchbruch verhelfen werden.

    Kurt Schumacher beruft Willy Brandt zum «Verbindungsmann» der SPD in der ehemaligen Reichshauptstadt.
    Im Vergleich zu den darbenden Mitmenschen geht es Willy Brandt, als er sich im Februar 1948 in sein neues Aufgabengebiet einzuarbeiten beginnt, ebenfalls nicht schlecht. Die hannöversche Chefetage besorgt ihm im Grunewald eine kleine, unmittelbar am Halensee gelegene möblierte Dienstvilla, an deren Frontseite das Schild «Sozialdemokratische Partei Deutschlands – Berliner Sekretariat» auf das bedeutsame Alleinstellungsmerkmal seiner Tätigkeit verweist und in die er nun mit Freundin, Haushälterin und Schreibkraft einzieht. Außerdem verfügt er über einen Volkswagen nebst Chauffeur – für die damaligen Verhältnisse fast schon luxuriös zu nennende Voraussetzungen.
    Zwar wird sich der Verbindungsmann im Nachhinein ein bisschen wehleidig daran erinnern, dass er den «nicht unbehaglichen Status eines skandinavischen Staatsbürgers mit Diplomatenpass» gegen den permanenten Notstand eingetauscht habe, der in der geteilten Hauptstadt vor der Währungsreform herrschte, aber seine Rut urteilt hier wohl gerechter: Detailliert berichtet sie über die Privilegien, die sich für das Paar unter anderem aus seiner langen Zugehörigkeit zu den Norwegern ergeben. So stapeln sich etwa im Schlafzimmerschrank sechstausend amerikanische Zigaretten, die die beiden während ihrer Zeit bei der Militärmission gehortet haben und mit denen sie sich auch weiterhin einen überdurchschnittlichen Lebensstandard finanzieren können.
    Die Vereinbarung mit der SPD sieht vor, dass der Berliner Statthalter seinen Kontakt zu den Alliierten vor allem dafür nutzen soll, eine «vernünftige Deutschlandpolitik» zu fördern – ein schwammiger Begriff, bei dem sich der zusehends autoritäre Kurt Schumacher die Definitionshoheit vorbehält. Im Wettbewerb mit einem gewissen Konrad Adenauer, der in den Zonen der späteren Bundesrepublik die Katholiken und Konservativen um sich schart und strikt auf Westbindung setzt, steuert der dogmatische rote Patriot gegenüber den Besatzungsmächten einen schroffen Konfrontationskurs. Wer die Einheit wolle, legt er sich knallhart quer, müsse einen uneingeschränkt souveränen und – wie er zumindest anfangs ins Kalkül zieht – notfalls neutralen Staat etablieren.
    Für den eher in europäischen Kategorien denkenden Willy Brandt ist das keine ganz einfache Vorgabe, die ihm den Job nicht gerade erleichtert, aber welche Schwierigkeiten er damit hat, bringt er erst Jahrzehnte später zu Papier: «Die an Fanatismus grenzende Unbedingtheit, mit der er an einer einmal gefassten Entscheidung festhielt, seine Art des Redens und die Überbetonung nationaler Gesichtspunkte –», schreibt er sich als Altkanzler seinen Frust von der Seele, «ich könnte nicht behaupten, dass ich mich mit Schumacher wesensverwandt fühlte.»
    Doch im ereignisreichen Jahr 1948 lernt er zugleich auch die politischen Privilegien zu schätzen, die sich mit seiner Funktion verbinden. Er darf an den Sitzungen des Parteivorstands in Hannover teilnehmen, und als der leidgeprüfte Chef nach dem rechten Arm im Frühsommer noch das linke Bein verliert, übernachtet er während der

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