Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
von Prag die Einverleibung der ehemaligen Reichsmetropole folgen könnte, und wie begründet diese Angst ist, zeigt sich schon nach wenigen Wochen. Den Bestrebungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs, einen separaten deutschen Staat aus der Taufe zu heben (der dann im Juni mit der Währungsreform ja auch tatsächlich Gestalt gewinnt), setzen die Sowjets den zunehmenden Druck auf die westlichen Sektoren in Berlin entgegen. Nachdem sie bereits im Februar damit begonnen haben, die Transporte auf den Zufahrtswegen zu behindern, verlassen ihre Vertreter bald den Allliierten Kontrollrat und ziehen sich Mitte Juni schließlich auch aus der gemeinsamen Kommandantur für Berlin zurück. Die Spaltung der Hauptstadt ist endgültig vollzogen.
Einige Tage später gehen dann in der eingekreisten Enklave mit der Einführung der D-Mark buchstäblich die Lichter aus. Als erste Maßnahme schaltet Moskau den über zwei Millionen im freien Teil der Stadt lebenden Menschen kurzerhand an Strom ab und versucht schon am Tag darauf, sie von der künftigen Bundesrepublik vollends zu trennen. Sowjetische Soldaten sperren alle Zugänge nach Westberlin; auf den Straßen und Schienen und selbst in der Binnenschifffahrt kommt der gesamte Versorgungsverkehr zum Erliegen.
Um ihre in der Potsdamer Konferenz garantierten Hoheitsrechte über Berlin nicht der Willkür der Supermacht im Osten preiszugeben und gleich im ersten Kräftemessen des Kalten Kriegs zu unterliegen, bleibt der westlichen Allianz unter dem Kommando des Militärgouverneurs der US-Zone, General Lucius D. Clay, allein die Versorgung ihrer Sektoren mittels Luftbrücke – ein anfänglich lediglich beiläufig ins Auge gefasster, weil als letztlich ziemlich unrealistisch eingestufter Kraftakt, der danach aber auf geradezu sensationelle Weise zum Erfolg führt. Der amerikanischen und britischen Luftwaffe gelingt es, die hermetisch abgeriegelte Halbstadt über dreihundert Tage lang mit mehr als zwei Millionen Tonnen Nahrungsmitteln, Rohstoffen und anderen lebensnotwendigen Gütern zu beliefern, bis der staunende Kreml-Chef Stalin schließlich einlenkt und die Blockade aufhebt.
So bewundernswert dieser gigantische logistische Coup ist – ohne eine entsprechende mentale Verfassung und Leidensbereitschaft der Eingeschlossenen wäre er wohl kaum möglich gewesen; und so sieht das auch Ernst Reuter. Wie der ihn begleitende Willy Brandt später berichtet, trifft er sich zu Beginn der existenziellen Krise «mit einigen Herren der amerikanischen Verwaltung» und gibt als Stadtoberhaupt außer Diensten eine im Namen seiner Bürger «durch nichts zu erschütternde» Erklärung ab: «Tun Sie, was Sie tun können, und wir werden tun, wozu wir uns verpflichtet fühlen.» Man sei bereit, alle Beschwernisse auf sich zu nehmen und bis zum Letzten Widerstand zu leisten.
Tatsächlich ist es US-Quellen zufolge insbesondere jener Schwur, der die ursprünglich unschlüssigen Strategen im Weißen Haus wie im Pentagon erst zum Handeln ermutigt. Der von ihnen anfangs eher argwöhnisch beobachtete vormalige Kommunist und der nun energisch zupackende General Clay legen in den Monaten des permanenten Ausnahmezustands nicht nur das Fundament für eine ungeahnt ersprießliche deutsch-amerikanische Freundschaft, sondern weisen der Stadt ihre fortan über Jahrzehnte hinweg heroisch behauptete außerordentliche Rolle zu: Allen Prüfungen und Rückschlägen zum Trotz gilt sie als «Vorposten der freien Welt» und «Pfahl im Fleisch» des aggressiven Sowjetimperiums.
Jeder «Rosinenbomber», der ab Juni 1948 auf dem Flughafen Tempelhof die ersehnte Fracht ablädt, schärft bei Brandt die Sinne. Aus dem Grübler, der filigrane Modelle einer die Machtblöcke versöhnenden Nachkriegspolitik entwickelte, wird Schritt für Schritt ein entschiedener Agitator für die Bindung an den Westen. Dieses vor allem von Reuter forcierte Konzept erscheint nun angesichts der in der Ostzone herrschenden Zustände auch Schumachers Mann als unabdingbar – was für den freien Teil Berlins bedeutet, dass sich die Stadt möglichst eng mit der entstehenden Bundesrepublik verknüpft.
Die Wiedervereinigung Deutschlands will er natürlich im Blick behalten, aber die mit der Luftbrücke teuer erkaufte Unabhängigkeit gilt ihm im Vergleich dazu als das höhere Gut. Statt sich in Träumereien über eine ferne Zukunft zu verlieren, plädiert er immer leidenschaftlicher für die Anerkennung der Realitäten. Man müsse zunächst einmal «in
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