Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
demokratischer Sozialist» glaube er so «der Bewegung» am nützlichsten zu sein.
Wie bereits in Schweden liegt das Schwergewicht seiner Arbeit, die er an der Schnittstelle zwischen Ost und West zu leisten hat, wieder auf einer «halb nachrichtendienstlichen» Tätigkeit. Neben den für einen Presseattaché üblichen Verpflichtungen, etwa Kontakte zu Journalisten zu halten, um ihnen die Interessen und Sichtweisen seiner Behörde nahezubringen, nimmt die zielstrebig verfolgte «Observation» der Berliner Szene den breitesten Raum ein. Mit seinem ausgeprägten Sprachtalent und der umgänglichen Art ist der ebenso ernsthafte wie eloquent-trinkfreudige Offizier in den ungezählten Clubs, die die Amerikaner und Briten in der Trümmerlandschaft aus dem Boden stampfen, ein geschätzter Gesprächspartner.
Da er in den ersten Monaten seiner Amtszeit unverdrossen von der alsbaldigen Vereinigung der ehemaligen Reichshauptstadt ausgeht, lockt ihn vor allem der sowjetisch besetzte Sektor, in dem er fleißig Eindrücke sammelt. Bisweilen sitzt er dabei auch haltlosen Gerüchten auf – etwa jenem, wonach ein besonders orthodoxer Flügel der SED den Anschluss der SBZ an die UdSSR betreibe oder im krassen Gegensatz dazu die angeblich bestens fundierte News («Streng vertraulich!») über einen unmittelbar bevorstehenden Entspannungskurs Stalins. Allein im Jahr 1947, notiert der Außenposten akribisch, habe er den zuständigen Stellen in Oslo insgesamt fast vierhundert «Berichte und Schreiben, oft mit Anlagen» zukommen lassen; ein gewaltiger Output, der seine Auftraggeber umso mehr zufriedenstellt, als der Absender die Materialien mit plastischen Kommentaren anreichert. So porträtiert er zum Beispiel den Vorsitzenden der SED, Wilhelm Pieck, den er in Begleitung eines Redakteurs interviewt, seiner Phantasielosigkeit wegen konsterniert als «kommunistischen Hindenburg».
Zu den für ihn persönlich aufregendsten Erlebnissen, die ihm seine Erkundungen bescheren, zählt das Wiedersehen mit dem aus den USA heimgekehrten alten Kampfgefährten Jacob Walcher, der fast am gleichen Tag wie er seine Zelte an der Spree aufgeschlagen hat, konsequenterweise aber im Osten. In mehreren langen Unterredungen bemüht sich der einstige Mentor, jetzt Chef einer Gewerkschaftszeitung, seinen vormaligen Musterschüler von der Sozialistischen Einheitspartei Moskauer Prägung zu überzeugen, und stellt ihm generös höchste Ämter in Aussicht, falls er sich zu einem Frontenwechsel entschlösse.
Reagiert der Umworbene damals wirklich so, wie er es dreizehn Jahre später seinem Ghostwriter Leo Lania vermittelt? «Wenn Walcher nicht mein Freund gewesen wäre», steht in seiner Biographie unter dem Titel «Mein Weg nach Berlin» zu lesen, hätte er über dessen «an Blindheit grenzende Naivität nur lachen können», und tatsächlich sei der ja schon sehr bald kaltgestellt worden und in der politischen Versenkung verschwunden. Doch das Manuskript datiert von 1960, als Willy Brandt zum Kanzler aufsteigen möchte. 1947 hofft er dagegen immer noch, die Sowjetunion werde sich als zweite Weltmacht in ihrem Inneren Schritt für Schritt liberalisieren, um sich danach geläutert in die Völkergemeinschaft einzureihen. Und schon gar nicht hält er zu diesem Zeitpunkt für möglich, jemals selber einen bürgerlich-kapitalistischen Staat zu regieren.
Im Widerspruch dazu steht andererseits, dass ihn die Signale des Kremls, den Deutschen im Ostteil ihres Landes ein totalitäres System überstülpen zu wollen, durchaus beunruhigen. Auch wenn er sich zunächst noch weiterhin an das Ideal einer vereinigten Arbeiterbewegung klammert, wirft er Walchers Einheitssozialisten von Gnaden der KPdSU vor, sie hätten die sozialdemokratischen Genossen in der «Zone» glatt erpresst, und so bleibt für beide am Ende ihres Theoriestreits nur ein tiefer Graben: Während «Jim» in der siegreichen Sowjetunion letztlich den «naturgegebenen Verbündeten» sieht, baut sein früherer Adlatus auf eine Gesellschaftsordnung, die sich zum Ziel setzt, «Elemente des Kollektivismus und der Freiheit» zu verknüpfen. Schmerzlich voneinander enttäuscht, verliert man sich anschließend aus den Augen.
Der Bruch mit Walcher, dem neben Leber zweiten Vorbild seiner jungen Jahre, enthält über den persönlichen Aspekt hinaus auch ein herbes Stück Symbolik. Er fällt in eine Phase, in der Brandt von seiner bisherigen Programmatik Abschied nimmt – und dabei vor allem von den in Schweden
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