Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
langen Abwesenheit Schumachers häufig in dessen verwaistem Büro. Deutlicher lässt sich der eindrucksvolle Karrieresprung, den das einst widerspenstige Proletarierkind sichtlich genießt, kaum noch symbolisieren.
Dabei fällt seine Tätigkeit für die SPD mit einer Entwicklung zusammen, die den Deutschen die seit Kriegsende größten Umbrüche beschert und Brandts politische Visionen eines einheitlichen, demokratischen und sozialistischen Neuaufbaus nicht unberührt lassen. In nahezu jedem Monat dieses stürmischen Jahrs gilt es von der Währungsreform über den Beginn der Berlin-Blockade bis hin zu den Arbeiten an einer Verfassung für den westlichen Teilstaat (auf den im Osten die SED reagiert, indem sie die Gründung einer sogenannten Volksdemokratie in Aussicht stellt) immer neue einschneidende Änderungen zu verkraften. Und alle verfestigen die von ihm vehement bekämpfte Spaltung.
Trotz des immensen Drucks, der für ihn aus dem politischen Wirrwarr erwächst, kann er mit erstaunlichem Elan seine persönlichen Verhältnisse ordnen. Nach der amtlichen Trennung von Carlota, die sich mit Tochter Ninja in Oslo niederlässt und ihm als Literaturagentin für seine in skandinavische Sprachen übersetzten Bücher zeit ihres Lebens verbunden bleibt, heiratet er im September ein zweites Mal. Es dauert lange, bis sich im Harz ein norwegischer Militärpfarrer findet, der an seiner Scheidung keinen Anstoß nimmt und dem Paar den kirchlichen Segen gibt. Eile ist umso mehr geboten, als Rut Bergaust geb. Hansen – und jetzt vorübergehend Rut Frahm – schon kurz vor der Niederkunft steht. Nur wenige Wochen danach kommt in einem Berliner Krankenhaus, das sich infolge einer von den Sowjets erzwungenen Stromsperre mit Notbeleuchtung behelfen muss, ihr erster Sohn Peter zur Welt.
Der einstige Exilant, der im «Dritten Reich» seine Heimat verließ, um seinem Vaterland aus der Fremde dienlich zu sein, und von den Nazis ausgebürgert wurde, ist inzwischen auch offiziell wieder Deutscher. Mit der Bewilligung seines Antrags, den die für seinen Geburtsort zuständige Landesregierung in Kiel bearbeitet, erlischt die norwegische Staatsangehörigkeit automatisch. Laut Urkunde, für die man aus Sparsamkeitsgründen, wie er im Nachhinein gerne erzählt, einen alten, mit ausgetuschtem Hakenkreuz behafteten Papierbogen verwendet, heißt er von da an zunächst einmal «Herbert Ernst Karl Frahm, genannt Willy Brandt». Den endgültigen Namenswechsel genehmigt erst im Mai 1949 der Polizeipräsident in Berlin.
Entscheidet er sich tatsächlich nur deshalb so, weil er unter sein früheres Leben endgültig den Schlussstrich ziehen will? Was immer für den flüchtigen jungen Linkssozialisten das ursprüngliche Motiv gewesen sein mag – der repatriierte Sozialdemokrat fügt den vielen umlaufenden Deutungsversuchen die vielleicht plausibelste Erklärung hinzu. Der nom de guerre , rechtfertigt sich der Genosse im Rückblick, habe auch seine Übereinstimmung mit sich selbst und seinem Verhalten als Emigrant bekräftigen sollen: «Ich hatte nichts zu verbergen.»
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5.
«Begreife, dass ich Macht will!» Berliner Kämpfe
Unter den Kandidaten, die Kurt Schumacher ins Auge gefasst haben mag, um den vakanten «Botschafter»-Posten sachgerecht zu besetzen, ist Brandt gewiss eine gute Wahl. In seinen jungen Jahren schon ein «Mann von Welt», darf er auf Qualitäten verweisen, die in der überalterten und in mancherlei Hinsicht rückwärtsgewandten Partei dringend gebraucht werden. Seine im Exil gesammelten Erfahrungen – und in diesem Zusammenhang insbesondere der in der «Schule des Nordens» begonnene Wandlungsprozess vom linksradikalen Heißsporn zum soliden Reformsozialisten – lassen ihn für die Aufgabe ebenso prädestiniert erscheinen, wie die unermüdliche Einsatzbereitschaft und das bei allem Ehrgeiz ausgleichende Wesen beeindrucken.
Die Mehrheit seiner Genossen an der Spree denkt darüber allerdings anders – und das hat nicht zuletzt mit ihrem ausgeprägten Selbstwertgefühl zu tun. Seit dem Verlust der Eigenständigkeit im Osten dominiert die SPD in den Sektoren der Amerikaner, Briten und Franzosen umso klarer, und während die Bundespartei erst nach Gründung der Bonner Republik eine feste Struktur gewinnt, ist man in der alten Reichshauptstadt organisatorisch schon längst gefestigt. Von «Hannover» einen Repräsentanten vorgesetzt zu bekommen, den sie auch als Kontrolleur empfinden müssen, halten die
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