Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Berliner Sozialdemokraten unter diesen Bedingungen geradezu für einen Affront.
Zwar liegen sie unter der Regie des dynamischen Handwerkers Franz Neumann in ihrem Kampf gegen die Kommunisten auf der Linie Schumachers, was aber die Einstellung Brandts in dieser Frage anbelangt, überwiegt das Misstrauen. Als ehedem treuer Paladin Jacob Walchers sehen in ihm nicht wenige noch für einige Zeit einen Anwalt obskurer Vereinigungsgelüste und «verkappten SED-Sympathisanten» – eine grobe Fehleinschätzung, die sich auch aus persönlichen Animositäten speist und seine wahren Absichten im Nervenkrieg zwischen Ost und West verkennt.
Der «Verbindungsmann» ist kaum im Amt, als ihm Mitte Februar 1948 ein kaltschnäuziger Staatsstreich die letzten Träume raubt. Die sowjetische Führung zwingt der Tschechoslowakei, die er im Sommer zuvor bereist und ihrer demokratisch-sozialistischen Errungenschaften wegen bewundert hat, mit der Gleichschaltung der bürgerlichen Parteien brutal ihr Herrschaftssystem auf – für Brandt ein Schock. Was dem von ihm immer noch ersehnten «dritten Weg» am nächsten kam, wird binnen weniger Tage Stalins totalitärem Machtanspruch unterworfen.
Wie sehr ihn das Ereignis beschäftigt, zeigt sich schon im März bei seiner ersten großen Rede. Ohne Umschweife beichtet der Vorstandsvertreter da vor SPD-Funktionären im roten Wedding sein «grausames Erwachen», um dann anschließend den «Völkern des Westens» eine «äußerst wichtige Lehre» ins Stammbuch zu schreiben: Wer sich auf die Einheitsfront mit den Kommunisten einlasse, warnt er die von seiner Eindringlichkeit aufgeschreckten Versammelten, gehe mit Sicherheit an ihr «zu Grunde».
Die von Brandt lange gehegte Hoffnung, zwischen den beiden Gesellschaftsmodellen des Westens und der kommunistischen Welt eine Vermittlerrolle einnehmen zu können, hat sich praktisch erledigt. Brücken zu schlagen, korrigiert er nach der Prager Tragödie seine Strategie, müsse einer späteren Entwicklung vorbehalten bleiben. Bis auf weiteres gelte es stattdessen, die Freiheit zu verteidigen. «Keinen Schritt zurückweichen!» heißt nun seine Devise.
Dieser fast schon kategorische Imperativ, den er aufgrund immer neuer besorgniserregender Nachrichten formuliert, bringt ihn mit einem Mann in Verbindung, dem er bereits einige Monate zuvor als norwegischer Major begegnet ist: Bei der in Zehlendorf lebenden Witwe Julius Lebers lernt er Ernst Reuter kennen, den im Juni 1947 gewählten, aber aufgrund eines Moskauer Vetos an der Ausübung seines Amtes gehinderten Oberbürgermeister von «Gesamt-Berlin». Der um vierundzwanzig Jahre ältere Sozialdemokrat aus dem Holsteinischen, der sich nach der Oktoberrevolution in russischer Kriegsgefangenschaft vorübergehend den Kommunisten anschloss und das «Dritte Reich» im türkischen Exil überdauerte, lässt ihn von Stund an nicht mehr los.
Wie der kämpferische Leber, der ihn in seiner Lübecker Zeit als Heranwachsenden beeinflusst hat, und danach der zum Dogmatismus neigende Walcher ist es jetzt ein in seiner Unbeugsamkeit verwandter Charakter, dem der anhängliche Brandt höchsten Respekt entgegenbringt. Vermutungen, der neue Freund sei ähnlich den beiden früheren eine Art Ersatzvater gewesen, nennt er in der Rückschau zwar leicht übertrieben, doch seine Elogen sprechen dafür: Enthusiastisch vergleicht er den gebildeten Humanisten, in dessen Denken und Wirken «kantischer Idealismus und sozialistische Ideen eine vollkommene Verschmelzung erfahren» hätten, mit einem «alten Baum, der vielen Stürmen getrotzt hat und um den man sich gerne lagert, weil man sich da so geborgen fühlt».
In Berlin ist dieser Genosse auch ohne die Insignien eines offiziellen Amts die überragende Figur. Wo immer der von den Sowjets gehasste Renegat das Wort ergreift, verkörpert er jenen Freiheitswillen, der in allen Nachbetrachtungen fast zur Legende geronnen ist. «Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt …!»: Spätestens als er auf dem Höhepunkt der Berlin-Blockade zur berühmtesten seiner auf ungezählten Demonstrationen wiederholten Durchhalteparolen ansetzt, erklärt sich Brandt zum «Mann Reuters». Am politischen Himmel und in den Sphären des Geistes, wird er in seinem Buch zur ersten Kanzlerkandidatur etwas blumig bekennen, leuchten nun ihm und seiner Leitfigur «dieselben Sterne, nach denen wir unseren Kurs richteten».
Deutlicher als andere erkennen der Lehrmeister und sein Schüler, dass der Katastrophe
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