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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
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möglichst sattelfestes Urteil über ihn bilden zu können, schildert noch in den sechziger Jahren etwa der hessische Generalstaatsanwalt und Genosse Fritz Bauer. In Stockholm als Emigrant mit Brandt eng verbandelt, sei er vom Vorsitzenden «mehrmals einvernommen» und akribisch nach den Qualitäten des früheren SAP-Rebellen befragt worden – «doch erstaunlicherweise kannte er die bereits».
    Was Schumacher insbesondere zu imponieren scheint, ist die bei allem Widerspruchsgeist auffällige Geradlinigkeit des jungen Linkssozialisten, die in einem entscheidenden Punkt nun auch ihr drittes Gespräch bestimmt. Es würde ihn sicher ermutigen, argumentiert der Kandidat, in Berlin die Auffassungen der Parteileitung zu verfechten, wenn ihm «intern die uneingeschränkte Möglichkeit» eingeräumt werde, im Falle von Meinungsverschiedenheiten auch seine eigenen Ansichten vortragen zu dürfen, und der als herrschsüchtig verschriene SPD-Chef hält das für durchaus berechtigt: Man habe in Hannover ja schließlich «die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen».
    Nach den aufreibenden politischen Lehr- und Wanderjahren sieht es tatsächlich so aus, als sei der Sozialdemokrat Willy Brandt ans Ziel gekommen. Obschon er sich seiner Sache noch nicht völlig sicher sein kann, quittiert er in einer für ihn untypischen Hast den Dienst bei der Militärmission und macht auch, was seine Nationalität anbelangt, entschlossen reinen Tisch. Norwegischer Staatsbürger gewesen zu sein, versichert er in einem Eilbrief dem Außenminister Halvard Lange, habe ihm außerordentlich viel bedeutet, aber jetzt wolle er dazu beitragen, sein Ursprungsland vor der «größten Katastrophe aller Zeiten» zu bewahren, und der langjährige Protektor von der NAP versteht die Motive ebenso wie der Schwede Gunnar Myrdal. Eine wichtige Entscheidungshilfe ist für ihn darüber hinaus die Reaktion seiner Lebensgefährtin Rut, die früher als andere begreift, mit welchem Sturm und Drang es ihren Freund ins heimische Revier zieht, und sich ihm zuliebe mit der Rolle einer «deutschen Hausfrau» begnügt.
    Aber schon kurz darauf sitzt der Berliner Parteisekretär im Wartestand zwischen allen Stühlen. Auf einer Reise nach Skandinavien, die er für seinen künftigen Chef vorbereitet hat, melden sich in den Reihen der dort noch verbliebenen Emigranten unerwartet kritische Stimmen. Der vermeintlich reumütig zur SPD zurückgekehrte Genosse, erfährt der irritierte Kurt Schumacher, sei ein «gemeiner Schieber» und «gerissener Geschäftsmann», der in den Jahren des Exils letztlich vorwiegend aus materiellen Gründen die Seiten gewechselt habe. Schlimmer noch: Als «Agent der Komintern» und «Busenfreund Jacob Walchers» müsse auch seine Gefolgschaftstreue in Frage gestellt werden.
    Da bringt es zunächst einmal wenig, dass ihm die «Vereinigung deutscher Sozialdemokraten in Norwegen» zur Seite springt: Was seine weltanschaulichen Überzeugungen betreffe, könne man Brandt guten Gewissens bestätigen, weder rechten noch linksextremen Verführungen erlegen zu sein – die sorgfältig inszenierte Hetzkampagne scheint trotzdem zu wirken. «Die in Hannover», registriert er verbittert, melden sich nicht mehr.
    Natürlich ist das für ihn eine umso größere Blamage, als er sein Ausscheiden aus dem «norwegischen Staatsverband» auch mit der Begründung angekündigt hat, die Parteileitung habe ihn dringend gebeten. Und nun diese Pleite! Einige Tage lang verfällt er in eine depressive Stimmung, wie sie ihn in späteren Jahren häufiger heimsuchen wird, doch dann setzt sich in ihm der Kämpfer durch. In einem Brief, der an Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig lässt, stellt er Schumacher vor die Alternative, entweder einem neidischen Denunziantenklüngel zu vertrauen oder aber ihm, der sich stets zu den «Grundsätzen des demokratischen Sozialismus im Allgemeinen und zur Politik der deutschen Sozialdemokratie im Besonderen» bekannt habe.
    Instinktiv baut der gerade in prekären Situationen erstaunlich robuste Brandt darauf, der von bänglichen Jasagern umgebene Chef werde eine couragierte Haltung zu schätzen wissen, und bekräftigt noch einmal seine Eigenständigkeit. Eine gedeihliche Zusammenarbeit könne er nur garantieren, wenn es ihm gestattet werde, sich «über neu auftauchende Fragen selbst den Kopf zu zerbrechen» und auch beim «ersten Mann der Partei» nicht jede Formulierung «im Voraus» abnicken zu müssen. Sollte seine unter einer solchen Prämisse

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