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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
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skizzierten Friedensplänen, die sich nun immer deutlicher als Illusion erweisen. Passé der schöne Traum, das im Herzen des Kontinents liegende Deutschland könne sich zu einer Modellregion entwickeln, in der unter einem europäischen, wenn nicht gar von den Vereinten Nationen gestützten Dach neue Formen der Kooperation erprobt würden. Stattdessen, schwant ihm, werde dort die zusehends gefährlichere Frontlinie einer globalen Bipolarität verlaufen.
    Im turbulenten 1947, das er später etwas ironisch «das Jahr meiner diplomatischen Karriere» nennt, beginnt der Ziviloffizier zugleich zu begreifen, dass mit seinem bis dahin zäh verteidigten Konzept einer möglichst geschlossenen linken Sammlungsbewegung offenbar kein Staat mehr zu machen ist. Um die marode Wirtschaft zu stärken, legen im Westen des Landes Amerikaner und Briten ihre Besatzungszonen zusammen, eine Entscheidung, der bald darauf der berühmte Marshall-Plan folgt, mit dem sich die innerdeutschen Fliehkräfte enorm beschleunigen. Im Osten vergeht dagegen kaum ein Tag, an dem die Sowjetunion nicht mit ständig neuen schikanösen Beschlüssen ihren Einfluss zementiert. Der Kalte Krieg wirft seine Schatten voraus, und dem darüber schwer bedrückten Brandt bleibt im Grunde nur die Rolle des «Observatörs».
    Die aber nimmt er mit umso größerer Hingabe wahr, je spendabler sich seine Auftraggeber zeigen. Er darf seine Freundin nachholen, die sogar in den Stand eines Fähnrichs erhoben wird und in der Presseabteilung der Auslandsvertretung einen Posten als Sekretärin erhält. Welches Unbehagen ihre neuen Rollen damals in beiden auslösen, beschreibt die sensible Rut Bergaust aus ihrer Sicht: Dass nach den entbehrungsreichen Kriegsjahren «jetzt ich zu einer Besatzungsmacht gehörte», erinnert sie sich beschämt, habe zu einem bei allem guten Willen unüberbrückbaren «Abstand» zur deutschen Bevölkerung geführt.
    Zwar sei an ihr und Willy bis auf die Uniform «nichts Militärisches» gewesen, im Alltag aber hätten sich die Lebensumstände gleichwohl gravierend unterschieden: «Wir lebten in beschlagnahmten Häusern mit beschlagnahmten Möbeln und schliefen in beschlagnahmten Betten. Die Verpflegung wurde von auswärts transportiert: Wir aßen in alliierten Restaurants, kauften in alliierten Geschäften, zahlten mit alliiertem Militärgeld – britischem BAFSV-Pfund oder amerikanischen SCRIPT-Dollars – und gingen in allliierte Kinos … Das war ein unnatürliches Kolonialleben und eigentlich menschlich ebenso entwürdigend für den, der in relativem Überfluss leben konnte, wie für den, der außen vor stand.»
    Dass ihr Partner das ähnlich empfindet, geht aus Impressionen hervor, die zu den gefühlvollsten seiner autobiographischen Textpassagen gehören. Wie erschlagen von der Wucht der Zerstörung, porträtiert der Journalist das frühe Nachkriegsberlin als «Niemandsland am Ende der Welt», über dessen Kratern, Geröllhalden und Trümmerfeldern «wie eine unbewegliche Wolke der Gestank der Verwesung» steht, während er sich im norwegischen Milieu «freundlich und angenehm» aufgehoben weiß. Was liegt da näher, als sich angesichts solcher Kontraste umso engagierter seinem Job zu widmen?
    Auf Dauer befriedigt ihn die Rolle des reinen Beobachters allerdings nicht. Bei seinen Reisen und Gesprächen auch die Interessen eines Landes im Blick behalten zu müssen, dem es beispielsweise um aus seiner Sicht randständige Probleme wie Fischfangkapazitäten geht, wo ihn selbst vornehmlich die «große Politik» reizt, macht ihn bald für anderweitige Offerten empfänglich. Im Herbst lockt ihn Gunnar Myrdal, der inzwischen als Generaldirektor einer Wirtschaftskommission der UNO nach Genf gegangen ist, in dieser Behörde das Management der Öffentlichkeitsarbeit zu übernehmen – für den rührigen «Internationalisten» ein Sprungbrett, das sehr viel besser in seine Pläne passt.
    Aber dann elektrisiert ihn ein weiteres Angebot, das seine letztlich doch eher unausgegorenen diplomatischen Ambitionen endgültig über den Haufen wirft: Kurt Schumacher, der die SPD von Hannover aus leitet, braucht in Berlin einen tüchtigen Vorstandsrepräsentanten.

    Zunächst einmal beweist ihm die Anfrage, wie sehr er sich in seinem Eindruck getäuscht hat, der oberste Sozialdemokrat habe sich bei ihren beiden ersten Treffen nicht wirklich für ihn interessiert. Das Gegenteil ist der Fall: Welchen Eifer der Parteipatriarch von Anfang an entwickelt, um sich ein

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