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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
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seiner Partei gegen den grenzüberschreitenden Herrschaftsanspruch der SED in den Westsektoren als Freiheitsheld gilt.
    Dabei begegnet der um knapp zehn Jahre ältere, bullige und vergleichsweise provinzielle Freund Kurt Schumachers dem «Norweger» weniger aus ideologischen Gründen mit äußerster Skepsis. Instinktiv wittert er in dem agilen Neuling, der als «Mittler» der hannöverschen Führung an den Vorstandssitzungen des Landesverbandes teilnehmen darf, vom ersten Augenblick an den Konkurrenten und versucht, ihn ähnlich zu isolieren wie den volkstümlichen Feingeist Reuter, dem er mit Bedacht eine Verankerung in den Parteigremien verwehrt – aber der ehrgeizige Rivale Brandt steht Neumann in puncto Rücksichtslosigkeit kaum nach. Wie sehr es in ihm brodelt, erfährt die Lebensgefährtin Rut, als sie in einer kritischen Stunde sein Schweigen aufzubrechen versucht und er sie ungnädig abfertigt: Ob sie denn wirklich nicht begreife, poltert er da los, dass es auch ihm um «Macht» gehe.
    Die hat er schon gewollt, als er in seiner Jugend zur SAP gewechselt ist – und mit welchem Geschick er sich mittlerweile auf allen Ebenen in Szene setzt, beweist er auf einem im September 1948 in Düsseldorf anberaumten Bundeskongress der SPD. In der Debatte über die Voraussetzungen einer künftigen Einheit Europas verficht der Vertrauensmann Schumachers einerseits vehement die politischen Visionen seines Chefs, der sich den vereinigten Kontinent nur «demokratisch und sozialistisch» respektive unter Beteiligung eines unabhängigen und in jeder Beziehung voll gleichberechtigten Deutschlands vorstellen kann. Dann rückt er aber auch gleichzeitig vorsichtig von ihm ab. Zu warten, «bis diese Bedingungen in aller Reinheit erfüllt sind», erscheint dem Redner, wie er in behutsamen Nebensätzen einfließen lässt, als zu passiv und apodiktisch.
    Immerhin gerät ihm sein Auftritt so beeindruckend, dass ihn einige Freunde für den Vorstand nominieren möchten, doch weil er sich in kluger Selbsteinschätzung noch keine Erfolgschancen ausrechnet, widersteht er dieser Verlockung. Brandt möchte sich zunächst einmal in Berlin unentbehrlich machen, wo nach seiner Analyse wie an keinem anderen Ort über die Zukunft der Nation entschieden wird und sich darüber hinaus am deutlichsten zeigt, wie illusionär die in Hannover unverdrossen gehegte Hoffnung auf eine schnelle Wiedervereinigung ist. Als der störrische Vorsitzende seinem in dieser Frage zunehmend unbotmäßigen Statthalter eine weniger problemträchtige Funktion in Schleswig-Holstein andient, weist er die Offerte kurzerhand zurück.
    Auf die Arbeit in Berlin bezogen, ergibt sich daraus bald eine Konstellation, die die innerparteilichen Bruchlinien spiegelt: Franz Neumann versucht an der Basis die Haltung Schumachers durchzupauken, der das 1949 verabschiedete sogenannte Ruhrstatut – ein Aufsichtsrecht der USA, Großbritanniens, Frankreichs und der Benelux-Staaten über die deutsche Schwerindustrie – ebenso bekämpft wie im Jahr darauf den Beitritt der Bundesrepublik zum Europarat. Willy Brandt favorisiert dagegen die von Ernst Reuter verfochtene Anlehnung an die westliche Allianz.
    Der enge Schulterschluss der beiden früheren Emigranten führt im Landesvorstand zu erbitterten Kontroversen, scheint die mit ihrem Überleben beschäftigten «Insulaner» aber kaum zu stören. Nach der Zerschlagung des Gesamtberliner Magistrats beschert die Bevölkerung der SPD im Blockade-Jahr 1948 mit 64,5 Prozent einen überwältigenden Wahlsieg, den sich beide Flügel der Sozialdemokratie an ihre Fahnen heften und der das innerparteiliche Patt vorerst fortschreibt. Neben Neumann, der fester denn je im Sattel sitzt, avanciert der von den westlichen Besatzungsmächten als Oberbürgermeister der Halbstadt bestätigte wortgewaltige Ernst Reuter nun endgültig zur «Stimme der Freiheit».
    Willy Brandt verändert sich in dieser Zeit wie nie zuvor. Die nervenaufreibenden Monate der Luftbrücke, die er mit einem Kerosinofen aus Westdeutschland und einer Petroleumlampe aus Schweden übersteht, prägen ihn derart, dass er sein gesamtes politisches Koordinatensystem einer gründlichen Prüfung unterzieht. «Eine allzu einseitige ökonomisch-deterministische Geschichtsdeutung», erkennt er etwa im Mai 1949, sei «von der lebendigen Wirklichkeit längst widerlegt worden» – mit einer «Theorie», die immer bloß hinterher erklären könne, «dass es so und nicht anders kommen musste», hat er von

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