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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
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unserem Teil der Welt Ordnung schaffen» und dem Moskauer Expansionsdrang die Stirn bieten. «Berlin», verkündet Brandt mit einem Pathos, wie es seinem neuen Mentor zu eigen ist, gehöre ein für alle Mal «zu Europa und nicht zu Sibirien».
    Konsequent verwandelt er sich so zum «Kalten Krieger», der auf seiner «Insel im roten Meer» einige Jahre lang keine Probleme damit hat, die im Exil erworbenen konspirativen Talente zu nutzen. In seiner Villa am Halensee betreut er sozialdemokratische Flüchtlinge aus der sowjetischen Besatzungszone oder pflegt Kontakte mit Genossen, die dort noch tapfer die Stellung halten. Nach der Zwangsvereinigung der SPD mit der KPD hat Kurt Schumacher seiner Chefetage in Hannover ein «Ostbüro» angegliedert, dessen wichtigste und von der Sozialistischen Einheitspartei als unerhörte Provokation empfundene Dependance in Westberlin residiert.
    Zwar versteift sich der spätere Regierende Bürgermeister, Bundeskanzler und Elder Statesman auf die Feststellung, er habe mit den Aktivitäten dieser Einrichtung «unmittelbar nichts zu schaffen» gehabt, aber sein Engagement lässt das bezweifeln. So berät er, wie er im Nachhinein nicht ohne Stolz bestätigt, die im freien Teil der Stadt stationierten Mitarbeiter der Agentur in «allgemein-politischen Fragen» und nimmt auch selber kein Blatt vor den Mund. Für Furore sorgt vor allem seine akribisch aufbereitete, umfängliche Dokumentation, in der er unter der aufreizenden Überschrift «Terror in der Ostzone» die Zwangsverschleppung zahlreicher Systemkritiker anprangert – «eine furchtbare Anklage gegen den Kommunismus», lobt ihn dafür der im Westen Berlins erscheinende «Telegraf».
    Und mehr: Er treibt das Regime im Osten bis zur Weißglut, unter anderem mit dem Einfall, im RIAS, dem in der Propagandaschlacht als Informationsquelle populären «Rundfunk im amerikanischen Sektor», die Namen von SED- und KGB-Spitzeln zu verlesen. Als das «Ostbüro» bei ihm anfragt, ob es der «Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit» (KgU) zuarbeiten solle – eine Organisation, die in der «Zone» bald mit brandgefährlichen Sabotageakten von sich reden macht und selbst in der späteren Bundesrepublik höchst umstritten ist –, hat er zumindest anfänglich wenig Bedenken.
    Seine Überzeugung, man könne «heute nicht Demokrat sein, ohne Antikommunist zu sein», und der Eifer, mit dem er den Moskauer Marionetten jenseits der Demarkationslinie ständig neue Schandtaten nachweist, scheint insbesondere den Amerikanern zu imponieren. US-Dienststellen in Berlin erwägen allen Ernstes, den unermüdlichen Freiheitskämpfer zum Chef der KgU-Stoßtrupps zu ernennen, was Brandt allerdings dankend ablehnt. Kein Zweifel, wird er dazu als alter Mann nur sagen, dass er sich damals «vielleicht ein bisschen zu sehr in den Denkmustern des Kalten Krieges verheddert habe, aber so nun doch nicht».
    Dennoch beschimpft ihn die Ostpresse in drohendem Unterton als «Agent der USA» – und als dann nach einem Geheimtreffen sogar noch ein befreundeter Kurier verschleppt wird, dem er seinen Dienstwagen samt Chauffeur zur Verfügung gestellt hat, sieht er darin zu Recht ein Warnzeichen. Weil er seine Verhaftung befürchten muss, verzichtet er immerhin sieben Jahre lang darauf, mit dem Auto oder der Bahn durch die «Zone» zu fahren.

    Zu den schlimmsten Erlebnissen, deren sich seine Ehefrau Rut in ihren 1992 erschienenen Memoiren erinnert, zählt die Reaktion Willy Brandts auf Intrigen. Nichts sei ihr in der ersten gemeinsamen Zeit schwerer gefallen, schreibt sie in «Freundesland», als mit den Veränderungen umzugehen, die ihr Mann aufgrund der Ränkespiele und Verleumdungen durchlaufen habe, wie sie in seinem Wirkungskreis offenbar an der Tagesordnung sind. Er igelt sich ein, und selbst ihr gegenüber zeigt er sich «bis zur Versteinerung verschlossen», wenn die zum Teil mit großer Hinterhältigkeit gestarteten Kampagnen in den eigenen Reihen organisiert werden.
    Die nach seiner Rückkehr aus dem Exil zunächst auch unter Sozialdemokraten verbreitete Ansicht, ein Genosse, der allein eine ausländische Staatsbürgerschaft besitze, könne in Deutschland unmöglich in Führungspositionen gelangen, scheint in der ehemaligen Reichshauptstadt besonders zu verfangen. Zu einem der schärfsten Widersacher schwingt sich dabei kein Geringerer auf als der populäre Landeschef Franz Neumann, ein willensstarker, waschechter Berliner, der seit März 1946 nach dem siegreichen Kampf

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