Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
da an nichts mehr im Sinn.
Den vormaligen Radikalsozialisten traumatisiert in den auslaufenden Vierzigern nicht nur der menschenverachtende Belagerungszustand, den die angeblich fortschrittliche Sowjetunion über den freien Teil Berlins verhängt hat – er bricht mit der ganzen, von den Machtstrategen in Moskau pervertierten Idee. Statt den einstigen Brüdern im Geiste zugunsten einer gemeinsamen proletarischen Bewegung «auch nur die geringsten Konzessionen zu machen», betont er nun den Primat einer parlamentarischen Demokratie, die für ihn «keine Frage der Zweckmäßigkeit» ist. Ob sich ihr Mann fortan als Antikommunist empfunden habe, fragt sich nach seinem Tod die letzte Ehefrau Brigitte Seebacher, um dann ihre Antwort darauf in der denkbar knappsten Form zusammenzufassen: «Und wie!» Auch wenn die Sowjetunion ihre Blockade damals beendet, vertieft sich die Spaltung der Welt weiter. Im Westen des ehemaligen Deutschen Reichs wird schon einige Tage danach die Bundesrepublik gegründet, der in der SBZ im Oktober die Ausrufung des ersten «Arbeiter-und-Bauern-Staats» unter dem Kürzel DDR folgt. Anstelle der an der Spree ansässigen Militärgouverneure wacht nun eine Alliierte Hohe Kommission, die auf dem Petersberg nahe der neuen Hauptstadt Bonn ihre Zelte aufschlägt, über die östlicherseits so genannte «BRD».
Willy Brandts bisherige Aufgabe hat sich damit erledigt. Sein Job als Repräsentant des Parteivorstands ist mangels hochrangiger Ansprechpartner überflüssig geworden, doch er muss sich nicht sorgen, nun arbeitslos zu werden. Bei den Wahlen zum ersten Bundestag, nach denen sich die anfangs siegesgewisse SPD im August überraschend auf den Oppositionsbänken wiederfindet, kommt er dank einer vorher für Westberlin vereinbarten Ausnahmeregelung zum Zug. Die entthronte Metropole darf ein kleines Sonderkontingent an Abgeordneten nach Bonn entsenden, und zu den insgesamt acht von der Berliner Stadtverordnetenversammlung gewählten Volksvertretern gehört neben Franz Neumann auch er. Ohne Stimmrecht sind sie zwar, wie er sich leise beklagt, «Stiefkinder» der Verfassung, aber seinem vitalen politischen Selbsterhaltungstrieb, mit dem er sich von da an konsequent auf eine zweigleisige Karriere in der alten wie der neuen Hauptstadt konzentriert, kann dieses Manko nichts anhaben.
Es ist trotzdem ein schwieriger Start. Beim zweiten Versuch, auf deutschem Boden eine stabile Demokratie zu etablieren, sind die Parlamentarier der ersten Stunde nicht gerade auf Rosen gebettet, und das gilt in besonderer Weise für die Genossen. Von den knapp zweitausend Mark, die Brandt als Abgeordneter bezieht, hat er fast ein Viertel in die Parteikassen zu zahlen, an seiner Arbeitsstätte ein möbliertes Zimmer zu finanzieren und daheim noch kräftig Raten abzustottern: Nach dem Verlust seines attraktiven «Botschafter»-Postens muss er dort auch die schöne Dienstvilla räumen und sich ein neues Domizil suchen, für das er dann allerdings über keinerlei Einrichtung verfügt. Um das am Schlachtensee gelegene Reihenhaus, in das er nun mit seiner Frau, Sohn Peter und einem Hund namens «Blackie» wechselt, einigermaßen wohnlich zu gestalten, lebt die Familie längere Zeit auf Pump.
Also bessert er sein schmales Salär wieder mit journalistischer Tätigkeit auf. In Skandinavien sind ihm das Osloer «Arbeiderbladet» und mehrere schwedische Abnehmer erhalten geblieben, und wie es dabei manchmal zugeht, wenn dem Hausherrn die Aufträge über den Kopf wachsen, beschreibt die als Gelegenheitskorrespondentin sachkundige Rut: In solchen Fällen habe sie eben die Texte durchtelefoniert.
Eine weitere Einkommensquelle, die nach Brandts Darstellung allerdings eher einem Rinnsal gleicht, erschließt sich für ihn über die Parteipresse. Er wird zum Chefredakteur der Tageszeitung «Sozialdemokrat» berufen, die er in «Berliner Stadtblatt» umbenennt und mit einem gewagten Relaunch aufzupeppen beginnt. Reißerisch verfasste Überschriften oder zwischendurch ein Titelfoto aus der Welt des Entertainments sollen die in der üblichen öden Gesinnungslitanei vollgepackten Seiten auflockern helfen und neue Leserschichten ansprechen. Aber der Versuch misslingt. Nach gerade mal anderthalb Jahren schrumpft das gutgemeinte Experiment zu einer wöchentlich erscheinenden Mitgliederpostille, der «Berliner Stimme».
In Bonn ergeht es ihm wie vielen seiner Kollegen: Die Begeisterung für das rheinisch-gemütliche, doch aus seiner Sicht weitgehend
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