Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
unpolitische Provinznest, das der eigentlichen Kapitale Deutschlands den Rang abgelaufen hat, hält sich in Grenzen, und sooft es geht, kehrt er der Stadt den Rücken. Zu schaffen macht ihm insbesondere seine Bundestagsfraktion, in der er exakt jene Schwächen wiederentdeckt, die ihn bereits im Exil an der SPD gestört haben und nun den Neuanfang erheblich erschweren: Die offenkundigen rhetorischen Qualitäten, für die er begnadete Debattenredner wie Carlo Schmid, Fritz Erler oder Adolf Arndt bewundert, können den jungen Volksvertreter nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Partei stagniert.
Wütend wirft er seinen Fraktionskollegen vor, sie übten sich, obschon sie ja nicht nur in die Opposition verbannt worden wären, sondern mit der Einführung der Ludwig Erhard’schen Marktwirtschaft auch eine entscheidende inhaltliche Niederlage erlitten hätten, wie einst zu Zeiten der Weimarer Republik in eitler Selbstgenügsamkeit. Das gilt nach seiner Auffassung vor allem für die Weigerung Schumachers, mit Konrad Adenauer ein Regierungsbündnis auszuhandeln. Schließlich ist die CDU aus der Bundestagswahl ja nur denkbar knapp als stärkste Kraft hervorgegangen.
So aber sitzt der bis dahin kaum bekannte Christdemokrat ab September 1949 einem mit der FDP und der Deutschen Partei gebildeten konservativ-liberalen Kabinett vor, das in vielen Punkten das genaue Gegenteil von dem verkörpert, was sich Willy Brandt in seinen Träumen von einer sozialistisch dominierten Nachkriegsordnung ausgemalt hat – für den ehrgeizigen Genossen eine ernüchternde Erkenntnis. In der ersten Legislaturperiode erschöpft sich seine Mitarbeit im Wesentlichen darin, dass er im Namen Berlins als eine Art Lobbyist auftritt, den Umzug von Bundesbehörden an die Spree fordert und sich im Übrigen an die grundlegend veränderte politische Großwetterlage anzupassen bemüht.
Trotz einer beachtlichen Jungfernrede im Bonner Plenarsaal bis auf weiteres noch Hinterbänkler, verortet er sein eigentliches Aufgabengebiet vorerst in der Viersektorenstadt – und das immer offener an der Seite seines neuen Mentors, der sich nach einer Verfassungsreform «Regierender Bürgermeister» nennen darf. Der ist ihm zwar kurzfristig ein bisschen gram, weil er das vakante Verkehrsdezernat nicht übernehmen möchte, aber das tut ihrer tiefen Verbundenheit letztlich keinen Abbruch. Der «Präfekt von Berlin», wie Kurt Schumacher den eigenwilligen Ernst Reuter nennt, hält ihm auch in schwierigen Situationen die Stange. Mit dessen Autorität im Rücken traut sich der aufsässige Bundestagsabgeordnete Brandt, zuweilen kräftig wider den sozialdemokratischen Stachel zu löcken, und lobt in einem Fall sogar die Beweglichkeit Adenauers, der den Gewerkschaften ein Mitbestimmungsmodell verspricht.
Kein Wunder, dass mit jedem solcher Beiträge sein Bekanntheitsgrad als Querdenker wächst, ihm dies zunächst einmal jedoch eher im bürgerlichen Lager nützt. In der SPD dagegen tritt der konfliktfreudige Genosse, der es bis dahin lediglich zum Vorsitzenden im unbedeutenden Kreisverband Wilmersdorf und zum Mitglied der Stadtverordnetenversammlung gebracht hat, auf der Stelle. Gegen den bodenständigen Franz Neumann, dem er mit Hilfe Reuters im April 1952 erstmals den Berliner Chefsessel streitig zu machen wagt, bleibt er einstweilen ohne Chance.
Natürlich will er vorankommen, weshalb er das Parteihauptquartier in Hannover, das ihm zunehmend mangelnde Linientreue vorwirft, mit manchmal faulen Ausreden zu beschwichtigen versucht. Als der empörte Schumacher etwa einen im «Arbeiderbladet» erschienenen anonymen Artikel tadelt, der das angeblich blauäugige Wiedervereinigungskonzept der sozialdemokratischen Führung angreift, weiß sich der mutmaßliche Autor nicht anders zu helfen, als sich etwas plump zu verleugnen: Den Text, verteidigt er sich lapidar, habe seine Frau Rut verfasst.
Wie tief das Zerwürfnis zwischen dem körperlich immer stärker verfallenden, in seinen Vorstellungen aber unerschütterlichen SPD-Patriarchen und dem einstigen Berlin-Beauftragten mittlerweile reicht, zeichnet sich bereits im Mai 1950 ab. Da widerspricht der Delegierte Brandt auf einem Kongress in Hamburg mit seinem «Ja zu Europa» offen der Schelte des Oppositionschefs, die Bundesregierung verschleudere mit ihrer supranationalen Integrationspolitik deutsche Souveränitätsrechte, und auf ähnlich provokante Art präsentiert er sich zwei Jahre danach in Bonn. Als Berichterstatter des
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