Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Auswärtigen Ausschusses erläutert er dem Parlament die Westverträge des Kanzlers, die von seinen Genossen wutschnaubend bekämpft werden, in einer für viele aufreizend überparteilich klingenden Tonlage.
Im August dieses Jahres stirbt der große Kurt Schumacher. Ein letztes Gespräch, zu dem er den renitenten jungen Kollegen empfängt, endet zumindest insoweit versöhnlich, als sich beide darüber einig sind, den Kommunisten auf einem wie immer gearteten Weg zur Einheit keinen Fußbreit nachzugeben. Ansonsten überwiegen bis zuletzt die Differenzen; man scheidet, so formuliert es Willy Brandt später in der ihm eigenen Zurückhaltung, «nicht als Freunde» voneinander.
Weniger emotional, wenngleich kaum minder distanziert, gestalten sich in der Folgezeit seine Beziehungen zum neuen Vorsitzenden Erich Ollenhauer. Den empfindet er bei aller persönlichen Solidität als klassischen Apparatschik und lastet ihm und dessen Altherrenriege die zweite, diesmal fast schon katastrophal ausfallende Niederlage vom September 1953 an. Da verfehlt die Union die absolute Mehrheit im Bundestag nur um eine Stimme und darf sich von Stund an beinahe unbehindert damit beschäftigen, die ökonomisch aufstrebende Republik ganz in ihrem Sinne zu formen.
Für den entgeisterten Genossen ein Grund mehr, seine Aktivitäten vorerst auf Berlin zu konzentrieren, zumal die Sozialdemokraten auch dort einen gewaltigen Dämpfer erhalten haben: Seit der Wahl zum Abgeordnetenhaus von 1950, bei der sie einen geradezu niederschmetternden Stimmenverlust von zwanzig Prozentpunkten erlitten, Brandt selbst aber ein Mandat errang, kann Ernst Reuter nur noch mit einer Allparteien-Koalition an der Macht bleiben, die Franz Neumann aber ein über das andere Mal befehdet. Als rotes Urgestein macht er keinen Hehl daraus, dass er es sehr viel besser fände, seine SPD in der Opposition zu sehen, um deren lädiertes Image ungestört aufpolieren zu können.
Mit dem Regierenden Bürgermeister vertritt Brandt dagegen ein dezidiert reformistisches Programm. Wie er es einst in der norwegischen NAP lernte, geht es ihm um eine Form der Erneuerung, die er als unvermeidliche «Einsichtnahme in die Wirklichkeit» beschreibt und die seiner Partei zu einer veränderten Philosophie verhelfen soll. Statt in störrischer Verweigerungshaltung stets bloß den alsbaldigen Zusammenbruch des Kapitalismus heraufzubeschwören, so erinnert sich der Elder Statesman in seinen Memoiren, hätten Ernst Reuter und er die SPD dazu gedrängt, die enormen materiellen Fortschritte in der Bundesrepublik zu begrüßen und sich darüber hinaus zur politischen Verankerung des Landes im Westen zu bekennen.
Einheit: ja, aber keinesfalls um den Preis der Freiheit, heißt deshalb sein Credo – und wie sehr er sich damit im Recht fühlen darf, beweisen ihm die Ereignisse vom 17. Juni 1953. Nach dem von den Sowjets niedergewalzten Arbeiteraufstand im Osten bestehen für ihn kaum noch Zweifel, dass sich seine Partei erst dann gegen die CDU werde behaupten können, wenn sie in dieser Frage klar Stellung beziehe. Nicht nur ihr überzeugendes Marktwirtschaftskonzept habe die Union entscheidend begünstigt, sondern mehr noch die Notwendigkeit, im Verhältnis zu Moskau eine Politik der Stärke zu verfolgen. Weil es aber zu Adenauers entschiedenem Kurs «eine greifbare Alternative nicht gab», sei die uninspirierte Sozialdemokratie auf der Strecke geblieben.
Als Konsequenz aus dieser Misere fasst er deshalb mit seinem Förderer und Freund im Schöneberger Rathaus das Ziel einer möglichst festen Anbindung der ehemaligen Reichsmetropole an den Bonner Staat ins Auge. Immerhin gelten im westlichen Teil der Stadt seit Januar 1952 ohnehin schon die Gesetze aus Bonn, und dessen volle Eingliederung in die Bundesrepublik ist für beide nur noch eine Frage der Zeit.
Aber sie kommen nicht mehr dazu. Zermürbt von endlosen Sitzungen, in denen Neid und Nichtigkeiten «sein Herz brachen», wie es Brandt noch Jahrzehnte danach vorwurfsvoll zu Papier bringt, stirbt Reuter in den Sielen. Dem am Abend des 29. September ahnungslos zu Hause sitzenden Gefährten wird die Schreckensnachricht dadurch bekannt, dass sein Telefon klingelt und das Osloer «Arbeiderbladet» seinen Korrespondenten um einen Nachruf auf den inzwischen weltweit gerühmten Bürgermeister bittet.
Nach Julius Leber und Jacob Walcher nimmt der jählings vereinsamte Vierzigjährige so vom dritten und letzten seiner «Väter» Abschied, doch bei aller
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