Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Typus Politiker, dem die Insulaner «Ohren und Herzen» öffneten.
Der eloquente Sozialdemokrat macht auch sonst eine gute Figur. Als «Präsident» sorgt er nicht nur auf seinem Fachgebiet für frohen Mut, sondern beflügelt im anfangs noch ziemlich tristen sprichwörtlichen «Schaufenster des freien Westens», das auf Jahrzehnte am Tropf der Bonner Republik hängen wird, zugleich das gesellschaftliche Leben. Hilfreich zur Seite steht ihm dabei seine unprätentiös-charmante Ehepartnerin, die bereits beim ersten Presseball nach seiner Wahl die Fotografen im trägerlosen Satinkleid mit Schärpe bezaubert, während er sich demonstrativ in einen Smoking wirft. Das Paar ist in Berlin en vogue.
Der politische Sachverstand sagt ihm, dass er in seiner Doppelfunktion in der Landespartei und an der Spitze des Abgeordnetenhauses in Berlin kaum mehr zu bremsen sein dürfte, aber so richtig zufrieden stellt ihn die Entwicklung noch nicht. Sein verheißungsvoller Höhenflug daheim kann ihn schwerlich darüber hinwegtäuschen, wie frustrierend schlecht es in der Bundes-SPD um ihn steht. Nach einem 1954 schmählich gescheiterten Versuch, in den Vorstand einzurücken, meldet er 1956 seinen Anspruch ein zweites Mal an und erleidet wiederum eine herbe Abfuhr. «Ich bin sehr traurig, beinahe verzweifelt», beichtet er nach der neuerlichen Pleite seiner bekümmerten Frau und trägt sich ein paar Tage lang mit dem trüben Gedanken, der schnöden Welt als «Eremit» zu entsagen.
Die bei seinen analytischen wie programmatischen Fähigkeiten erstaunliche Zurückweisung mag eine Summe von Gründen haben. Einer ist, dass es der häufig als Taktierer auftretende Brandt der Mehrheit der Genossen nicht gerade leichtmacht, in einer Reihe der damals brisanten Debatten seinen wahren Standpunkt zu ermitteln. So sympathisiert er etwa in wehrpolitischen Fragen kaum verhüllt mit dem von Adenauer betriebenen Beitritt der Bundesrepublik zur Nato, um den Kanzler dann allerdings auch wieder hochemotional unter Beschuss zu nehmen.
Die Leidenschaft, mit der er für sozialdemokratische Überzeugungen streitet, ist nie ganz frei von Berechnung und deshalb vielen Weggefährten suspekt. Als «Willy Wolke» wird er seiner absichtsvoll vagen Einlassungen wegen zwar erst später verspottet, aber in dieser Unschärfe übt sich schon der junge Brandt: Da er in beinahe jeder Situation seinem «Instinkt (oder vielleicht – wie seine Kritiker sagen würden – seinem Opportunismus) nachgab», analysiert selbst der ihm sonst wohlgesonnene Berliner FU-Professor Abraham Ashkenasi, sei es in der Tat oft schwierig gewesen, «aus seinen offiziellen Verlautbarungen zu erkennen, welche Politik er eigentlich verfolgte».
Zu solchen und ähnlichen Urteilen trägt auch eine Verhaltensweise bei, die ihm seine auffällig schwankenden Gemütszustände diktieren. Die Vertraute Carola Stern wundert sich über eine Mixtur aus «Härte und Geschmeidigkeit», der er in stabilen Phasen ein ans Heroische grenzendes Durchstehvermögen verdankt, ehe ihn dann wieder unerklärliche Selbstzweifel plagen und seine Konturen verschwimmen lassen. Dass er acht lange Jahre benötigt, um sich in der Bundespartei und seinem Landesverband gegen eine Konkurrenz zu behaupten, die ihm nicht im Entferntesten das Wasser reichen kann, hat mit diesen Brüchen zu tun.
Aber dann kommt der Abend des 5. November 1956. Die Welt schaut schockiert nach Ungarn, wo die Rote Armee am Tag zuvor begonnen hat, die aus dem Warschauer Pakt ausgetretene reformkommunistische Regierung Imre Nagy zusammenzuschießen – für das eingekesselte und besonders sensibilisierte Westberlin ein bedrohliches Fanal. In Erinnerung an den Volksaufstand vom 17. Juni rufen die Parteien deshalb zu einer Kundgebung auf, zu der sich mehr als hunderttausend Menschen vor dem Schöneberger Rathaus versammeln. Außer sich vor Wut, zieht die Menge danach in ungeordneter Formation zum hermetisch abgeriegelten Brandenburger Tor und verlangt dort in Sprechchören, «statt Reden Taten» sehen zu wollen.
In dieser hochexplosiven Situation, in der die Demonstranten sogar den sozialdemokratischen Betonkopf Franz Neumann niederschreien, bewahrt allein der Parlamentspräsident die Fassung. Geistesgegenwärtig setzt er sich mit seiner Frau und einem Megaphon in der Hand an die Spitze der aufgebrachten Masse und verhindert so den beabsichtigten wilden Marsch nach Osten. Zunächst gelingt es ihm, den Hauptstrom zum Charlottenburger Steinplatz unweit
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