Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Bestürzung über den schmerzlichen Verlust emanzipiert er sich auch. Dass ihn die Witwe ersucht, auf einer Kundgebung der SPD die Trauerrede zu halten – und den Juniorpartner ihres Mannes damit gleichsam zum Erben erklärt –, begreift er geistesgegenwärtig als große Chance. Souverän sieht er sich in der Partei «wie von selbst zum Führer des Reuter-Flügels herangewachsen».
Obwohl mit Schumacher und Reuter die beiden prominentesten Widersacher im Meinungsstreit der Sozialdemokraten über die Westbindung das Zeitliche gesegnet haben, setzt sich die Debatte unvermindert fort, und dies an keinem Ort intensiver als in der einstigen Hauptstadt. Den Rollen ihrer Mentoren entsprechend, vertreten die Lokalmatadore Neumann und Brandt einen gleichermaßen glaubwürdig strammen Antikommunismus, während sie in der Deutschlandpolitik wie im Ost-West-Konflikt und zumal in den Fragen der sozialen und ökonomischen Ausrichtung ihrer Partei strikt getrennte Wege gehen. Traditionalist gegen Modernisierer – was sich in der Bundesorganisation erst in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre voll entfaltet und am Ende das «Godesberger Programm» bestimmt, nimmt man in Berlin zumindest in Teilbereichen vorweg.
Klarer als der Einzelgänger Ernst Reuter hat der in zahllosen Hahnenkämpfen geschulte Brandt längst verinnerlicht, wie sehr die Karriere von einer verlässlichen Hausmacht abhängt, und so reagiert er nun auch auf die anfangs noch weit stärkeren Bataillone Neumanns. Nach dem Erfolgsschema seiner Debattierzirkel in Oslo und Stockholm schart er bereits seit 1950 junge Talente um sich, die die sogenannte Keulenriege des Landesvorsitzenden mit ihrer ungleich größeren Einfallskraft zusehends in Verlegenheit bringen. Eine besondere Stütze ist ihm dabei der Harvard-Absolvent Klaus Schütz – von 1967 bis 1977 selber «Regierender» –, der die Crew in die Techniken des in den USA entwickelten Grassroots Campaigning einführt und den von ihm verehrten «Meister» vor allem als Person zu managen versteht. Zu den Vorzügen des Chefs wiederum gehört, dass er der Phantasie seiner Mitarbeiter freien Lauf lässt und Gefolgschaftstreue bestens honoriert.
In verqualmten Kneipen, Betrieben oder Altenheimen die Basis von einem dringend nötigen Kurswechsel zu überzeugen, kostet Geduld und Nerven. Ein über das andere Mal gelingt es dem mehrheitlich proletarischen Establishment, die kopflastige «amerikanische Fraktion» in die Defensive zu drängen. Die «Schickeria», wettert der einstige Schlosser Neumann, maße sich an, die bewährte und angestammte Ordnung aus den Angeln heben zu wollen, um die Berliner Sozialdemokratie ihres in Jahrzehnten gewachsenen Selbstverständnisses zu berauben.
Doch Schütz und Co. treiben den Konflikt gleichfalls auf die Spitze. Aus ihrem Blickwinkel geriert sich der Vorsitzende als ebenso engstirniger wie herrschsüchtiger Apparatschik, der gegenüber dem Senat eine Art Weisungsrecht beansprucht. Für die Reformer, denen in erster Linie daran liegt, die verkrustete SPD auch konservativeren Schichten aufzuschließen, ist das später in Bonn heiß umstrittene «imperative Mandat», also die feste Bindung der Abgeordneten an inhaltliche Vorgaben der Parteiführung, schon damals ein Schreckensbegriff.
Im Sommer 1954 sieht Brandt die Zeit der Revanche gekommen, er stellt sich dem Antipoden abermals – und springt wieder zu kurz. Allerdings fehlen ihm zum Triumph nur noch zwei Stimmen, eine Differenz, die sich ertragen lässt, zumal ihn der Sieger als Stellvertreter zu akzeptieren hat. Außerdem profitiert der Vize davon, dass die Sozialdemokraten bei den Wahlen Ende des Jahres mit dem bisherigen Parlamentspräsidenten Otto Suhr ihren nach dem Tod Reuters kurzzeitig verlorenen Bürgermeistersessel zurückerobern. Für den etwas blässlichen, bald von einer schweren Krankheit gezeichneten Kollegen wird nun er Chef des Abgeordnetenhauses und setzt sich dort eindrucksvoll in Szene.
Ein Aufsteiger in seinem Element. Geschickt verwandelt der protokollarisch zweite Mann im Stadtstaat das eigentlich überparteiliche und repräsentative Amt zu einer Art Nebenregierung, um bei Kaffee und Cognac in nahezu täglich stattfindenden Hintergrundgesprächen mit Journalisten zu plaudern – eine stilsichere Selbstinszenierung, die den Medien imponiert: Willy Brandt, der «geistige Sohn Ernst Reuters», umschmeichelt ihn etwa der für die «Welt am Sonntag» arbeitende Kolumnist Klaus Harpprecht, sei genau der
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