Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
auf die normative Kraft des Faktischen. Nachdem er das Bündnis durchgepaukt hat, wollen sich ihm auch jene hinzugesellen, die sich ursprünglich sperrten, und das gilt vor allem für Herbert Wehner. Keine Rede mehr von seinem tiefsitzenden Misstrauen gegenüber den Liberalen; stattdessen stellt er sich in der Pose des ewigen selbstlosen Kärrners nur zu gerne als Fraktionsvorsitzender zur Verfügung und knüpft zu seinem Pendant, dem sächsischen Landsmann Wolfgang Mischnick, bald besonders enge Kontakte.
Ihren erstaunlich reibungslosen Start verdankt die Koalition aber mehr noch dem außergewöhnlich egozentrisch reagierenden Exkanzler Kiesinger. Zunächst versucht der eitle Schwabe, der sich wehleidig um seinen «rechtmäßigen Sieg» betrogen fühlt, die Freidemokraten mit einem großzügigen «Programm der Zusammenarbeit in Bund und Ländern für die siebziger Jahre» zu ködern, und als diese fragwürdige Offerte ohne Echo bleibt, verliert er prompt die Fassung. Wutentbrannt kündigt er an, den unbotmäßigen einstigen Partner bei den bevorstehenden Landtagswahlen aus den Parlamenten «hinauszukatapultieren».
Dass die Führung der FDP vor dem Hintergrund solcher Drohungen ihren sozialliberalen Verbund auch als Rettungsanker versteht, kann da kaum verwundern. Doch die neue Koalition scheint mehr als nur ein bloßes Zweckbündnis zu sein: In beiden Parteien bemüht man sich vom ersten Tag an um ein möglichst harmonisches Miteinander, in dem selbst der zur Hemdsärmeligkeit neigende Kanzleramtschef Horst Ehmke einen «gewissen Zauber» entdeckt. Im normalerweise wenig schillernden Bonn, schwärmt bald etwa die «Süddeutsche Zeitung», lasse sich die «vergnügteste Clique» beobachten, die dort je regiert habe.
Erstaunlich ist das allein schon deshalb, weil in dem bis dahin «besten Kabinett» der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte, wie der freidemokratische Innenminister Hans-Dietrich Genscher rückblickend nicht ohne Eigenlob vermerkt, aufseiten der SPD die Primadonnen dominieren. Für den meisten Trubel sorgen dabei neben dem kapriziösen Wirtschaftsprofessor Karl Schiller der ins Verteidigungsressort abkommandierte, unablässig dozierende Helmut Schmidt und der für die Finanzen zuständige, ebenso von sich eingenommene Versicherungsmanager Alex Möller, die ihre anerkannten fachlichen Fähigkeiten alle mit loderndem Ehrgeiz verbinden.
Der Kanzler zeigt sich inmitten der profilsüchtigen Ministerriege auffällig entspannt und nimmt seine Richtlinienkompetenz mit einer so souveränen Selbstverständlichkeit wahr, dass ihm nicht nur die linksliberalen Medien respektvoll den Hof machen. Die Basis für das insgesamt bemerkenswerte Auftreten der Regierung, analysiert nach den ersten hundert Tagen Axel Springers «Welt», liege eindeutig in der «großen und unbestrittenen Autorität» ihres Chefs. Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger, so das Blatt, seien «Kompromisse» gewesen – «Brandt ist Konsequenz».
Zu diesem Zeitpunkt sieht es tatsächlich so aus, als könne er einlösen, was in einem Leitartikel die «Frankfurter Rundschau» von ihm erhofft: Die unerquickliche «Ära der satten Selbstzufriedenheit» sei jetzt vorbei, unter die lähmende «Schlafmützendemokratie» werde endlich ein Schlussstrich gezogen und die Politik sehr viel «sportlicher».
Angetrieben vom Schwung seines arbeitswütigen Organisators Horst Ehmke, legt der Kanzler tatsächlich ein atemberaubendes Tempo vor. So braucht das Bündnis gerade mal vier Wochen, um den vom rechten Flügel der Opposition heftig befehdeten Atomwaffensperrvertrag zu unterschreiben und damit ein wichtiges Zeichen zu setzen: Das in der Großen Koalition immer wieder verschobene Abkommen ist die Voraussetzung dafür, dass schon kurz darauf mit der Sowjetunion respektive Polen Gespräche über Gewaltverzichtsabkommen begonnen werden – und mehr: Die Kontakte zu Moskau und Warschau machen den Einstieg in einen ersten Dialog zwischen den beiden deutschen Teilstaaten möglich.
Erwartungsgemäß bekräftigt das Treffen Brandts mit dem Ostberliner Kollegen Willi Stoph am 19. März 1970 in Erfurt inhaltlich den hinreichend bekannten und bis auf weiteres offenkundig unüberbrückbaren Dissens. Während sich das SED-Regime wie eh und je darauf versteift, die Bundesrepublik müsse die DDR völkerrechtlich anerkennen, weist der Gast aus Bonn diese Forderung entschieden zurück, indem er unbeirrt daran festhält, was er bereits in seiner Regierungserklärung
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