Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
erläutert hat: Sowenig von der sozialliberalen Koalition nun noch die Existenz zweier deutscher Staaten geleugnet wird, so eindeutig sind sie aus ihrer Sicht « füreinander nicht Ausland», weshalb «ihre Beziehungen zueinander nur von besonderer Art» sein können.
Wie richtig er mit seiner filigranen Theorie liegt, bestätigt ihm schließlich die Praxis. Als der Kanzler in einem Sonderzug in der thüringischen Provinzstadt eintrifft, begleitet ihn dieser deutsch-deutsche Ausnahmezustand ein paar Stunden lang auf Schritt und Tritt. Vor dem «Erfurter Hof», in dem er logiert, durchbrechen begeisterte Menschen zu Tausenden den von bewaffneten Volkspolizisten und stämmigen Helfern der Stasi gebildeten Sicherheitskordon und verlangen unerschrocken in immer lauteren Sprechchören («Willy, Willy …!») nach dem sehnlichst erwarteten Hoffnungsträger aus dem Westen. Der Besucher soll sich ihnen am Fenster zeigen, was er dann nach einigen Augenblicken der Unschlüssigkeit tatsächlich wagt.
Es habe in seinem Leben, wird Brandt noch anderthalb Jahrzehnte später bekennen, keinen Tag gegeben, der «emotionsgeladener» gewesen sei («Ich war tief bewegt und ahnte, dass es ein Volk mit mir war»), aber wahrscheinlich auch kaum einen, der ihm größere Geistesgegenwart abverlangt hätte. Obschon er sich damals in Sekundenbruchteilen entscheiden muss, verbietet ihm sein ausgeprägter Realitätssinn, solchen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Um die Welt geht stattdessen das wirkungsmächtige Bild eines hochkonzentrierten Staatsmannes, der mit einem unnachahmlich verhaltenen, einerseits ermutigenden und zugleich beschwichtigenden Handzeichen den äußerst schmalen Grat andeutet, auf dem seine Entspannungspolitik balanciert.
1970 reist Willy Brandt zu seiner ersten Begegnung mit DDR -Ministerpräsident Willi Stoph nach Erfurt. Vor seinem Hotel versammeln sich Tausende begeisterte Menschen und rufen ihn ans Fenster.
Trotz aller fortdauernden Querelen bei den Verhandlungen mit der DDR-Führung, die bei einem zweiten Treffen mit Stoph in Kassel bis hart an den Rand des Abbruchs der Kontakte ausufern, sieht sich der Kanzler auf dem richtigen Weg. Was immer von ihm in den folgenden Monaten in Szene gesetzt wird und letztlich seine gesamte erste Amtsperiode bestimmt, soll «ein weiteres Auseinanderleben der Deutschen verhindern», also von dem festen Willen beseelt sein, «über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander zu kommen», das zugleich auch die internationale Lage stabilisiert.
Schöne Vorstellungen, die ihm bald den Ruf eines Visionärs eintragen, zunächst einmal aber harte Arbeit erfordern. Je konkreter er sich mit der komplizierten Wirklichkeit befasst, desto bewusster wird ihm, dass gravierende Einschnitte in die bisher von der Bundesrepublik vertretene politische Philosophie unvermeidlich sind, und er folgt diesem Befund. Da offenkundig kein Weg daran vorbeiführt, die DDR als Staat zu akzeptieren, ergibt es seiner Meinung nach auch wenig Sinn, rituell nach der Wiedervereinigung zu rufen. Was die Landsleute für sich als Selbstbestimmung reklamieren – ein Postulat, das er prinzipiell nicht in Frage stellen will –, soll stattdessen einer künftigen «europäischen Friedensordnung» vorbehalten bleiben.
Obwohl er auch als «Kanzler der inneren Reformen» wahrgenommen werden will, tritt nun unmissverständlich zutage, dass seine wahre Leidenschaft der Deutschland- und Außenpolitik gehört. Auf der Basis der zwar manchmal schmerzlichen, aber letztlich unumgänglichen Anerkennung der Realitäten Ausgleich und Versöhnung zu stiften, spornt ihn umso mehr an, als mit Ausnahme einiger Widersacher um den früheren Parteichef Erich Mende die Liberalen ja im selben Boot sitzen. Während auf den Feldern der Wirtschaft und des Sozialen zwischen den Partnern so gut wie nichts konkret vereinbart worden ist, kann er in diesem Bereich einen klaren Kurs steuern.
Seinen treuesten Verbündeten hat Willy Brandt dabei in dem neuen Außenminister Walter Scheel. Der kippt als erste einschneidende Maßnahme die lästige Hallstein-Doktrin und weist seine Botschaften an, die Regierungen ihrer jeweiligen Gastländer vertraulich darüber zu informieren, dass in Bonn ein vertraglich untermauertes Verhältnis zur DDR angestrebt werde. Erklärtes Ziel sei die Vollmitgliedschaft beider deutschen Staaten in den Vereinten Nationen, ein Ende des obsoleten Alleinvertretungsanspruchs der Bundesrepublik demnach in Sichtweite.
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