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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
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Schauspieler wie Hans-Joachim Kulenkampff oder Inge Meysel und der mit bedeutenden Literaten und Publizisten gespickte Sympathisanten-Tross des unermüdlichen Herolds Günter Grass rühmen die Toleranz und Friedensbereitschaft ihres Favoriten. Dass kein anderer besser geeignet sei, um daheim und in der Welt die verharschten Nachkriegsstrukturen aufzubrechen, bestätigen ihm im Laufe seiner Kampagne selbst gemäßigte Protagonisten der «Außerparlamentarischen Opposition».
    So erleben die Deutschen die bis dahin spannendste, ihrer taktischen Versteckspiele wegen allerdings auch rätselhafteste Wahlschlacht in der jungen Geschichte der Bundesrepublik. Über die spektakulärste der denkbaren Optionen – eine Liaison zwischen Sozialdemokraten und Liberalen – will lange Zeit kaum jemand aus diesen beiden Lagern sprechen. Die FDP muss nach dem aufsehenerregenden Votum für den Präsidenten Gustav Heinemann um ihre damals bedeutsame nationalkonservative Klientel fürchten, und in der SPD scheint eine Mehrheit dem potenziellen neuen Partner trotz des weitverbreiteten Unbehagens an der Großen Koalition immer noch zu misstrauen. So bleibt den Vorsitzenden hier wie dort nicht viel anderes übrig, als sich auf möglichst leisen Sohlen zur Macht zu schleichen.
    Selbst als sich in der Endphase des Wahlkampfs der oberste Freidemokrat Walter Scheel in einer TV-Debatte der Spitzenleute dann doch noch voll aus der Deckung wagt, hüllt sich Willy Brandt demonstrativ in Schweigen.

[zur Inhaltsübersicht]
    8.
    «Notfalls mit einer Stimme Mehrheit» Der Kanzler des Aufbruchs
    Einige Stunden lang sieht es am Abend des 28. September 1969 so aus, als kehre die Bundesrepublik nach drei Jahren schwarz-roter Zwangsehe zu den alten und angestammten Verhältnissen zurück. Im Hauptquartier der Christdemokraten knallen angesichts der scheinbar immer stabileren Hochrechnungen, die der Union die absolute Mehrheit der Mandate verheißen, um neun Uhr die ersten Sektkorken, während sich der selig über allen Wolken schwebende Kanzler Kurt Georg Kiesinger bereits für die Glückwünsche des US-Präsidenten Richard Nixon bedankt.
    Das blanke Entsetzen herrscht dagegen bei den Liberalen, denen ein rundes Drittel ihrer Anhängerschaft abhandengekommen ist, und kaum weniger Trübsal blasen die in der Bonner «Baracke» ausharrenden Granden der SPD. Wehner und Schmidt scheinen nun sogar ihr Ziel zu verfehlen, an der Seite des bisherigen Partners weiter Regierungserfahrung sammeln zu können – ganz zu schweigen von den heimlichen Blütenträumen, in denen ihr Spitzenkandidat vorher schwelgte. Der verfolgt das vermeintliche Desaster in seinem Büro stumm an zwei Fernsehapparaten.
    Aber dann beginnt sich der Trend plötzlich umzukehren. Je weiter die damals noch zeitraubende Auszählung der Stimmen voranschreitet, desto stärker hellt sich die fast zur Maske erstarrte Miene Willy Brandts auf, und seine Hände ballen sich unwillkürlich zu Fäusten. Als er sieht, dass sich tatsächlich ein Vorsprung für das von ihm ersehnte Bündnis abzeichnet, geht er in seinem abgesperrten Präsidiumstrakt mit selbstbewusst durchgedrücktem Kreuz zum Telefon, um Walter Scheel zu ermuntern. Der hat sich unter dem Eindruck seines miserablen Abschneidens schon früh nach Hause geflüchtet, und der Kollege, der vor der Presse unverzüglich seinen Führungsanspruch anzumelden gedenkt, muss ihm sein Plazet dazu erst mühsam abringen. «SPD und FDP», sagt der Kanzleraspirant danach im Blitzlichtgewitter der Fotografen aufreizend gelassen, «haben mehr als CDU und CSU.»
    So erheblich die Risiken für ein künftiges sozialliberales Kabinett in Anbetracht der letztlich nur hauchdünnen Mehrheit sein mögen – der oft als Zauderer verschriene Kandidat bestimmt nun zupackend die Szene. Seine Chance witternd, kann ihn weder der seltsamerweise wenig besorgte Kiesinger verunsichern noch die Skepsis jener Genossen, die nach wie vor der Fortsetzung einer Großen Koalition den Vorzug geben. «Ich ließ niemanden darüber im Zweifel, dass ich Bundeskanzler werden wollte», bekräftigt er rückblickend in seinen «Begegnungen und Einsichten», und so verhält er sich in dieser denkwürdigen Wahlnacht auch.
    Immerhin sitzen ihm selbst noch nach der Feststellung des amtlichen Endergebnisses hochkarätige Widersacher im Nacken. Helmut Schmidt macht aus seiner Einschätzung keinen Hehl, die ins Auge gefasste Verbindung lasse sich eigentlich nur verantworten, wenn sie sich im Parlament

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