Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
auf «fünfundzwanzig Mandate über den Durst» stützen könne, und zumindest ebenso gravierend sind die Störmanöver Herbert Wehners. Während der SPD-Chef bereits an seiner Fernsehansprache arbeitet, beleidigt der die FDP kaltschnäuzig als «alte Pendlerpartei».
Doch Willy Brandt lässt sich nicht mehr beirren. Entschlossen, wie man ihn von außergewöhnlichen Situationen her kennt, räumt er seinerseits fast schon provokant alle Hindernisse aus dem Weg, die der ewige Rivale und Quertreiber immer noch aufzubauen versucht. Mit einem insbesondere gegen Wehner gerichteten «innerparteilichen Staatsstreich», so später der Historiker Arnulf Baring, will er sich über den politischen Triumph hinaus endlich auch als Person von seinem Zuchtmeister emanzipieren.
Willy Brandt wird 1969 als erster sozialdemokratischer Kanzler der Bonner Nachkriegsrepublik vereidigt und erlebt diesen Moment als zweite «Stunde null».
Dass ihm die Basis im Hauptquartier der SPD applaudierend Spalier steht, ist allerdings weniger auf diesen Kraftakt zurückzuführen als vielmehr auf eine gewaltige und zumindest in der Anfangsphase des rasch aus dem Boden gestampften sozialliberalen Bündnisses noch überschäumende Erwartung. In keiner ihrer bislang fünf Legislaturperioden ist die Bundesrepublik jemals unter Ausschluss der Konservativen regiert worden, was in der von Brandt im Wahlkampf kreierten «neuen Mitte» der Gesellschaft natürlich die Phantasien beflügelt.
So lastet auf dem ersten Genossen im Bonner Palais Schaumburg, dem im Parlament mit lediglich zwölf Stimmen Mehrheit denkbar enge Grenzen gesetzt sind, zugleich ein enormer Erfolgsdruck, der ihn aber offenbar kaum beschwert. Enthusiastisch stilisiert er den in demokratischen Staaten ganz normalen Machtwechsel zu einem Ereignis von unerhörter Tragweite: Erst mit einem wie ihm, dem «Kanzler nicht eines besiegten, sondern befreiten Deutschland», lässt der einstige Widerstandskämpfer vor Vertretern internationaler Medien durchblicken, habe Hitler den Krieg «endgültig verloren» – seine Wahl, soll das wohl suggerieren, sei für die Bundesbürger eine zweite «Stunde null». Zugleich klingt in dieser Aussage aber auch immer noch die Verbitterung über die Verleumdungskampagnen nach, denen er sich als Herausforderer Konrad Adenauers und Ludwig Erhards zu erwehren hatte. In seiner Regierungserklärung ist dagegen von solcher Rückwärtsgewandtheit nur noch wenig zu spüren. Stattdessen redet sich der sichtlich von sich selbst ergriffene Sozialdemokrat in einen regelrechten Modernisierungsrausch hinein, in dem er von der betrieblichen Mitbestimmung über den Ausbau der Autobahnen bis hin zu allgemeinen Steuererleichterungen oder der Gleichberechtigung der Frauen keinen nennenswerten Bereich auslässt. Alles soll akribisch durchforstet und im Bedarfsfall umgekrempelt werden – nach dem Muster Karl Schillers konjunktur- und fiskalpolitische Abläufe zu steuern, liegt ihm dabei ebenso am Herzen, wie im Geiste August Bebels einem «Vaterland der Liebe und Gerechtigkeit» zu dienen. «Wir sind nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an!», ruft der Chef der neuen sozialliberalen Allianz emphatisch in den Plenarsaal.
Angesichts seiner eher schwachen Bataillone mutet diese Botschaft allerdings etwas vollmundig an. Immerhin ist das Fundament des Bündnisses, mit dem der Kanzler die in vielerlei Hinsicht restaurative Republik umzubauen verheißt, von Anbeginn seiner Amtsperiode ziemlich brüchig. Nicht nur die eigene Partei wird durch heftige Flügelkämpfe belastet, er hat es zudem mit einem Juniorpartner zu tun, bei dem die national- und wirtschaftsliberale Fronde im Ernstfall immer noch über einen ausreichenden Einfluss verfügt, um ihm innen- wie außenpolitisch jederzeit das Wasser abgraben zu können.
Statt die Gesprächsergebnisse wie üblich in einem Vertrag festzuschreiben, begnügen sich die Führungsgremien deshalb mit einem vergleichsweise unverbindlichen «Koalitionspapier». Umso schwerer wiegt dafür das gute persönliche Verhältnis der beiden Gründerväter des Pakts. Brandt und Scheel, der im Kern seines Naturells kontemplative Norddeutsche und die rheinische Frohnatur, entwickeln bei aller förmlichen Distanz – wie der FDP-Chef im Nachhinein bestätigt – eine «subtile Männerfreundschaft», deren entscheidendes Merkmal die wechselseitige Verlässlichkeit ist.
Darüber hinaus setzt der in Machtfragen schlachtenerprobte Kabinettsherr
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