Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
obligatorisch zum Fallbeil der Hallstein-Doktrin greifen, finden den zuständigen Ressortchef aber sofort auf der Zinne. Derartige «Kindereien» möchte er nicht mehr mittragen und beruhigt sich erst wieder, als man sich darauf einigt, den angedrohten Abbruch der diplomatischen Beziehungen in ein weniger engstirniges «Einfrieren» der Kontakte umzuwandeln.
Doch was er der Öffentlichkeit als Exempel für seine Standhaftigkeit vorführen will, endet abrupt mit einer Blamage. Da Herbert Wehner dem Kanzler versichert, der Vorgang sei zu läppisch, um darüber die Koalition in Gefahr zu bringen, muss der eben noch einigermaßen zufriedengestellte Außenminister in einer nächtlichen Kabinettssitzung klein beigeben und verlässt danach wortlos den Saal. Stundenlang quält er sich zu Hause mit der Frage, ob er gegen den empörend unsolidarischen Genossen ein Verfahren wegen parteischädigenden Verhaltens einleiten sollte – ein, wie er sich letztlich selbst eingesteht, natürlich absurder Gedanke.
Umso mehr hat er unter den Folgen dieser Demütigung zu leiden. Tags darauf alarmiert seine Frau Rut den Gefährten Egon Bahr und sagt ihm weinend am Telefon, ihr Mann, der apathisch in einem abgedunkelten Zimmer liege und «alles hinschmeißen» wolle, brauche dringend seine Hilfe. Erst mit einer kräftigen Seelenmassage gelingt es dem unverzüglich ans Bett eilenden Vertrauten, dem solche Ausfallerscheinungen hinreichend aus Berlin bekannt sind, den Chef zum Aufstehen zu bewegen.
Gleich danach aber, als sei das Ganze kaum der Rede wert gewesen, zeigt sich prompt wieder der andere Brandt. Die für den depressiven Schub offenkundig verantwortliche Einsicht, gegen den innerparteilichen Rivalen eine Kraftprobe verloren zu haben, hindert ihn nicht daran, nun erst recht seine Ziele zu verfolgen. Immerhin ist er – im Sprachgebrauch Herbert Wehners – weiterhin die «Nummer eins» der SPD und sein Tatendrang ungebrochen. Wie schon 1961 und 1965 geht er als Kanzlerkandidat mit mehr als zweihundertfünfzig Veranstaltungen bis hart an den Rand der physischen Erschöpfung, um beim dritten Versuch endlich die ersehnte Wende zu schaffen. Dass er dabei nur noch auf eine sozialliberale Liaison setzt und für den Fall der vom Wähler erzwungenen Fortdauer des bisherigen Bündnisses den Ministersessel zur Verfügung zu stellen beabsichtigt, behält er wohlweislich für sich.
Dabei hat er allem äußeren Anschein zuwider seine abermalige Bewerbung um das wichtigste politische Amt im Lande einem stillschweigend herbeigeführten Kompromiss zu verdanken. Im Gegensatz zur Union, die sich mit ihrem Slogan «Auf den Kanzler kommt es an» ganz der Bestätigung Kurt Georg Kiesingers verschreibt, bevorzugen die Sozialdemokraten in ihrer Werbekampagne bewusst eine kollektive Lösung. Auf ihren Plakaten, die «die richtigen Männer» zeigen, sieht man den Herausforderer nun Schulter an Schulter mit anderen Parteigrößen.
Kaschiert wird das für Brandt wenig schmeichelhafte personelle Konzept ein bisschen dadurch, dass in diesem Sommer und Frühherbst 1969 nicht die zuweilen schwer durchschaubaren außenpolitischen Entspannungsbemühungen die öffentliche Debatte bestimmen, sondern eindeutig ökonomische Themen – und da vorweg die von dem äußerst beliebten Minister Karl Schiller hartnäckig vertretene Aufwertung der D-Mark. Mit seinen leicht verständlichen Begriffen wie «Konzertierte Aktion» oder «Soziale Symmetrie», die der Bevölkerung ein von der SPD verheißenes «modernes Deutschland» suggerieren, personifiziert der insbesondere in bürgerlichen Kreisen hochgeschätzte Experte am ehesten die gesellschaftliche Mitte.
Kein Wunder, dass er so zum eigentlichen Aushängeschild der Sozialdemokraten avanciert und den im Vergleich dazu etwas abgenutzt wirkenden nominellen Spitzenmann glatt überstrahlt. Während der alerte Wirtschaftsprofessor nach jeder weiteren originellen Metapher neue Rekordmarken auf der Popularitätsskala erreicht, muss sich der Vizekanzler mit sehr viel bescheideneren Resultaten begnügen: Zu Beginn des Wahlkampfs wünschen sich bei Umfragen nur noch knapp zwanzig Prozent der Deutschen eine Regierung unter seiner Regie.
Aber die nackten Zahlen täuschen. Je näher der Tag der Entscheidung heranrückt, desto stärker verschiebt sich das Bild. Wie in Ansätzen schon vier Jahre vorher entwickelt sich vor allem in Prominentenzirkeln eine rasch anwachsende Bekenntniskultur zugunsten Brandts. Beliebte Fernsehstars und
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