Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
schreibt später der Parteienforscher Franz Walter, «zu einer Art säkularisiertem Heiland» – und mehr: Er sei für seine Anhänger «nicht einfach ein Bundeskanzler» gewesen, sondern ein international gefeierter «Völkerverbrüderer», der den Sozialdemokraten einen beträchtlichen moralischen Kredit verschafft habe.
Willy Brandt nimmt 1970 in Oslo den Friedensnobelpreis für seine Verdienste um die Entspannungspolitik entgegen. Für viele wird er zum «säkularisierten Heiland».
Es ist ein bisschen wie im Märchen. Mit Frau Rut und Sohn Lars fährt der einstige Emigrant am 10. Dezember nach Norwegen, um in der ihm wohlvertrauten Osloer Universitätsaula den Preis entgegenzunehmen. Die Vergangenheit will er nicht vergessen, weshalb er sich in der Dankesrede dezidiert seiner Zeit als Ausgebürgerter und des Lebens im Widerstand erinnert und in Sonderheit die «ehemalige Résistance in allen Ländern» grüßt. Aber der Kern seiner Botschaft gilt der Gegenwart: «So wie der Exilierte die friedlichen und menschlichen Züge seines Vaterlandes wiederentdecken durfte», sagt er leise, habe auch Deutschland «zu sich selbst zurückgefunden».
Ein paar Wochen lang sieht es danach so aus, als könne ihn das übliche Klein-Klein daheim kaum noch erreichen. Über die Jahreswende wächst ihm ein Nimbus zu, der nicht zuletzt die Angriffslust Barzels erkennbar hemmt. Gegen einen Mann zu Felde zu ziehen, dessen Außenpolitik derart geadelt worden ist, fällt dem frisch nominierten Rivalen auch deshalb schwer, weil er in der Sache selbst zu den eher kompromissbereiten Christdemokraten zählt.
Überdies macht Willy Brandt keinerlei Anstalten, sein enormes Prestige zu nutzen, um die Opposition in der Öffentlichkeit unter Druck zu setzen und zur Ratifizierung der Verträge zu drängen. Stattdessen versteift er sich Ende Januar 1972 auf eine Idee, die er im Nachhinein als «gröbsten Fehler» seiner Amtszeit bedauert. Er versucht den Konservativen zu imponieren, indem er eine gemeinsame Erklärung der Regierungschefs von Bund und Ländern absegnet, die Mitgliedern angeblich verfassungsfeindlicher Organisationen den Zutritt zum öffentlichen Dienst verwehrt – den später sogenannten Radikalenerlass. Der kommt in seiner praktischen Auswirkung Berufsverboten gleich und empört vor allem die überwiegend betroffene junge Generation.
Für einen Reformer, der sich auf die Fahnen geschrieben hat, «mehr Demokratie wagen» zu wollen, und nun hinnimmt, dass der geltenden Einzelfallprüfung eine «Regelanfrage» aufgepfropft wird, ist das ein seltsames Verhalten – aber andererseits auch nicht nur taktischen Gründen geschuldet. Seit Mai 1970 wütet die terroristische «Rote-Armee-Fraktion» im Lande, die den Staatsapparat mit immer neuen mörderischen Anschlägen erschüttert und dabei auf beunruhigend weitgefächerte «Sympathisantenkreise» baut. Denen das Handwerk zu legen, scheint Brandt um des inneren Friedens willen wichtiger, als den zweifelhaften Extremistenbeschluss abzuwehren.
Den erhofften überparteilichen Rückhalt für seine Ostpolitik kann er mit solchen Zugeständnissen allerdings nicht stärken, im Gegenteil: Nach den drei nationalliberalen Überläufern muss der Kanzler zunächst den Abgang der Genossen Klaus-Peter Schulz und Franz Seume verkraften, die als Vertreter des Berliner Abgeordnetenhauses mit ihrem begrenzten Stimmrecht zwar zahlenmäßig kaum ins Gewicht fallen, aber den Zerfallsprozess beschleunigen. Was die Stunde wirklich geschlagen hat, zeigt sich dann umso deutlicher im Februar 1972. Da trennt sich mit dem Spitzenfunktionär der schlesischen Landsmannschaft, Herbert Hupka, ein überaus wichtiger Sozialdemokrat von seiner Fraktion.
So gewaltig der Höhenunterschied zwischen dem Bonner Amtsinhaber und seinem Herausforderer wenige Wochen vorher zu sein schien, so sehr bringt dieser Frontenwechsel nun den Oppositionsführer in die Offensive. Zum Machtwechsel fehlen ihm, sofern er sich seiner Leute sicher sein darf, lediglich zwei Dissidenten, und dass die insbesondere in der FDP zu finden sein könnten, wird mit jedem Tag wahrscheinlicher. Also hält Barzel auch gar nicht mehr mit seiner Absicht hinter dem Berg, zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik das Instrument des «konstruktiven Misstrauensvotums» einzusetzen – also den Kanzler zu stürzen, indem er sich von der Mehrheit der Abgeordneten an dessen Stelle zum Regierungschef wählen lässt. Sein politischer Sachverstand sagt
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