Wilsberg 03 - Gottesgemuese
schwarzgelbe Farbe die Szenerie nicht munterer machte.
Das Haus Nummer fünfzehn sah aus wie ein stinknormales Bürohaus, jedenfalls nicht wie eine Kirche. Auf der grauen Fassade prangte in großen Lettern der Schriftzug »Zentrum für ›Geistiges Training‹«. Auf einem kleinen Schild neben der Eingangstür stand: »Kirche für angewandte Philosophie«.
Die Tür war unverschlossen. Ich kam in einen tristen grauen Flur mit einer Treppe auf der rechten Seite. Ein blauer Pfeil wies wortlos nach oben. Ich folgte dem Pfeil und sah mich am Ende der Treppe direkt einem Büchertisch gegenüber. Hinter dem Büchertisch saß ein junger Mann mit gelbem Pullover und franseligem Schnurrbart. Er ließ das Buch, in dem er gerade gelesen hatte, sinken und schaute mich fragend an.
»Guten Tag«, sagte ich, »mein Name ist Georg Wilsberg. Ich interessiere mich für ›Geistiges Training‹.«
»Oh ja«, antwortete er. »Waren Sie schon einmal bei uns?«
»Nein. Ich bin zum ersten Mal hier.«
Er legte das Buch auf den Tisch. Es war von Ross W. Stocker, genau wie alle anderen, die auf dem Büchertisch standen.
»Dann haben Sie sicher auch noch nicht den Fragebogen ausgefüllt?«
Ich verneinte erneut.
»Es dauert ungefähr eine halbe Stunde«, sagte er und drückte mir einen Zettel in die Hand. »Sie können sich dort drüben hinsetzen.«
Ein paar Meter weiter gab es ein Plastikensemble aus Tischen und Stühlen. Zwei Männer und eine Frau belagerten einen Tisch und aßen Hamburger, die sie offensichtlich aus der nebenan gelegenen Filiale einer weltweit operierenden Fast-Food-Kette geholt hatten. Die Esser nickten mir freundlich zu. Ich grinste zurück.
Der Fragebogen enthielt 198 Fragen. Man konnte sie kreuzchenweise mit »Ja«, »Nein« oder »Weiß nicht« beantworten. Manche waren praktischer Natur: »Zahlen Sie Ihre Schulden prompt zurück?« Andere gaben mir zu denken: »Würden Sie auf einen Fasanen schießen?« Und wieder andere gaben mir Rätsel auf: »Bemerken Sie gelegentlich ein Zucken in Ihrer rechten Hand?« Ich beantwortete die Fragen wahrheitsgemäß. Man soll nur lügen, wenn es notwendig ist.
Ich gab dem jungen Mann den Fragebogen zurück, und er sagte: »Oh, schön. Herr Schuster wird ihn gleich auswerten. Warten Sie bitte fünf Minuten!«
Ich setzte mich wieder hin und blickte mich um. An den Wänden zählte ich fünf Porträts von Ross W. Stocker. Manchmal trug er einen Anzug, manchmal Freizeitkleidung. Ansonsten sah er gleich aus. Die Frau am Nebentisch sagte: »Ich erziehe meine Kinder nur nach dem Kindertrainings-Kurs. Es gibt nichts Besseres.«
Ich betrachtete meine Fingernägel. Sie waren dreckig. Als ich fast alle gesäubert hatte, kam ein Endzwanziger mit dynamischen Schritten auf mich zu. Er trug Bürstenhaarschnitt, Hemd und Krawatte.
»Hallo! Ich bin Armin Schuster. Sind Sie Herr Wilsberg?«
Ich gestand, und er führte mich einen Gang entlang. Der erste Raum auf der linken Seite hatte keine Tür. Stattdessen hing eine rote Kordel vor dem Eingang. Ein Schild besagte: »Büro Ross W. Stocker«.
Schuster wartete auf mich, während er eine Tür aufhielt.
»Hat er mal hier gearbeitet?«, fragte ich und zeigte auf das Büro von Stocker.
»Nein. Das ist symbolisch gemeint.«
Wir betraten ein kleines, unpersönlich eingerichtetes Büro. An der Wand hing eine Weltkarte mit verschiedenfarbigen Nadeln. Ich vermutete, dass sie die Niederlassungen der KAP anzeigten.
Schuster setzte sich hinter einen Schreibtisch und bot mir einen billigen Bürostuhl an. Er rülpste dezent.
»Darf ich Sie fragen, wie Sie zu dem Entschluss gekommen sind, hierherzukommen?«
»Ein Bekannter hat mir vom ›Geistigen Training‹ erzählt. Und da dachte ich: Vielleicht solltest du das auch mal ausprobieren!«
»Wie heißt Ihr Bekannter? Ich meine, möglicherweise ist er Mitglied bei uns?«
»Martin Kunstmann.«
In seinen Augen blitzte es kurz auf. »Sind Sie ein enger Freund von Martin Kunstmann?«
»Nein, ich kenne ihn nur flüchtig. Auf einer Party hat er von dem ›Geistigen Training‹ geschwärmt. Eigentlich wollte ich noch mal mit ihm sprechen, bevor ich herkam. Aber seine Frau sagte mir am Telefon, dass er in England sei.«
»Ja, er macht dort einen Fortgeschrittenenkurs. Aber nun zu Ihnen, Herr Wilsberg. Ich habe Ihren Fragebogen ausgewertet. Sehen Sie hier!« Auf einem Blatt Papier erkannte ich eine Kurve mit gefährlichen Zacken nach unten.
»Ihr Selbstbewusstsein und Ihre Tatkraft bewegen sich im
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