Wilsberg 03 - Gottesgemuese
Normalbereich. Die Probleme liegen woanders.« Er zeigte mit einem Kugelschreiber auf die unteren Zacken. »Sie sind depressiv, nervös und bis zur Kontaktunfähigkeit verschlossen.«
»So drastisch würde ich das nicht sehen«, protestierte ich verhalten.
»Die Selbstwahrnehmung ist immer verzerrt. Aber das ist ein objektiver Test. Wenn Sie die Fragen wahrheitsgemäß beantwortet haben, sind die Ergebnisse auch richtig.«
»Hm.« Ich schlug die Augen nieder.
»Gab es in der letzten Zeit ein Problem, das Sie besonders bedrückt hat?«
»Nun ja, ich hatte einen Streit mit meiner Freundin. Jetzt sind wir getrennt, mehr oder weniger.«
»Und wie würden Sie Ihr Lebensgefühl beschreiben?«
Ich grübelte. »Schwierig. Gedämpfter Pessimismus, würde ich sagen.«
»Das ist kein Gefühl, das ist eine Einstellung. Gehen Sie einmal zurück in Ihre Kindheit! Gab es da ein Gefühl, das Ihr Leben bestimmt hat?«
Ich grübelte heftiger. »Kann ich nicht sagen.«
Er drehte das Blatt um und malte auf die Rückseite ein Strichmännchen. Über dem Kopf des Männchens schwebte eine Wolke. »Jeder Mensch hat ein Lebensgefühl. Meistens drückt es einen nieder. Erst wenn man das Gefühl erkennt und beseitigt, wird man frei.«
»Und durch ›Geistiges Training‹ erkennt man dieses Gefühl?«, fragte ich so naiv wie möglich.
»Genau.« Er machte ein Kreuz durch die Wolke. »›Geistiges Training‹ führt zum Zustand der Freiheit.«
»Deshalb bin ja hier«, sagte ich. »Ich möchte ›Geistiges Training‹ machen.«
»Schön.« Er rülpste wieder. Irgendwas mit seiner Verdauung stimmte nicht. Oder er hatte einen von diesen Hamburgern gegessen. »Haben Sie ein wenig Zeit? Zufällig beginnt heute Nachmittag ein Schnupper-Trainingskurs für Anfänger. Wenn Sie wollen, können Sie gleich mitmachen.«
»Ja, das geht. Ich habe ein paar Tage Urlaub.«
»Hervorragend. Kommen Sie um kurz vor zwei, dann erledigen wir die Formalitäten. Anschließend geht's direkt los.«
Auf dem Rückweg zum Foyer fragte er mich: »Haben Sie schon das grundlegende Buch von Ross Stocker: Geistiges Training. Die Wissenschaft der angewandten Philosophie? «
»Nein«, log ich.
»Das müssen Sie unbedingt haben. Bis zwei können Sie ein bisschen darin schmökern.«
Der junge Mann am Eingang war überglücklich, dass er mir ein Buch von Stocker verkaufen konnte. Wahrscheinlich brachte ihm das drei Pluspunkte ein.
Die Zeit bis zwei Uhr nutzte ich zu einem kurzen Bummel durch Borbecks Innenstadt und einem ausgiebigen Besuch in einem griechischen Restaurant. In dem Buch von Stocker las ich die biografischen Angaben. Danach hatte Stocker fast alleine den Zweiten Weltkrieg für die Amerikaner gewonnen, anschließend in der Einsamkeit von Alaska gelebt und die besten Science-Fiction-Bücher geschrieben, bevor er das ›Geistige Training‹ entdeckte. Mit der Kirche für angewandte Philosophie war er drauf und dran, die Welt vor dem Untergang zu retten.
Um fünf vor zwei stand ich wieder vor dem Büchertisch. Statt Armin Schuster nahm mich eine magere Frau mit Bienenkorbfrisur in Empfang. Ich folgte ihr in ein anderes Büro.
»Die Spende für den Schnupper-Trainingskurs und der Jahresbeitrag für die KAP, das macht zusammen einhundertfünfzig Mark. Bitte unterschreiben Sie den Aufnahmeantrag hier!«
»Kann ich nicht zuerst den Kurs machen, bevor ich mich entscheide, ob ich Mitglied werden will?«, fragte ich bescheiden.
»Das geht aus rechtlichen Gründen nicht. Wir sind ein eingetragener Verein und dürfen nur an Mitglieder Kurse liefern.«
Ich unterschrieb, dass ich weder geisteskrank sei noch jemals ein böses Wort über die KAP verloren hatte. Als die hundertfünfzig Mark in der Schublade verschwunden waren, lächelte sie mich an.
»Ihr Trainer ist Shiba. Sie wartet schon nebenan auf Sie.«
Shiba sah nicht aus wie eine Deutsche mit Indientick, sondern wie jemand, der diesen Namen schon länger trägt. Sie war ungefähr zehn Jahre jünger als ich, hatte pechschwarze Haare und einen niedlichen Akzent.
»Das ist Claudia«, sagte sie. »Claudia wird in dem Trainingskurs deine Partnerin sein. Mal bist du der Trainer und sie der UF, mal ist sie der Trainer und du der UF.«
»Was ist ein UF?«, fragte ich.
Shiba kicherte. »UF ist der Unfreie. Bis zum Zustand der Freiheit bist du ein UF.«
Claudia sah tatsächlich aus wie eine Deutsche mit Indientick. Sie trug ein wallendes, orangefarbenes Gewand mit Blümchenmuster. Sie war Ende dreißig und
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