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Wilsberg 03 - Gottesgemuese

Wilsberg 03 - Gottesgemuese

Titel: Wilsberg 03 - Gottesgemuese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Kehrer
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unterhielt sich angeregt mit einem älteren Mann, also setzte ich mich alleine in die dritte Reihe und betrachtete meine neuen Glaubensbrüder und -schwestern. Die meisten waren zwischen dreißig und fünfzig und sahen so aus, als würde man ihnen bedenkenlos einen Gebrauchtwagen abkaufen. Die Gespräche, soweit ich sie mitbekam, drehten sich um das, was einem im fünften, sechsten und siebten Trainingskurs passiert. Eine ältere Frau hinter mir erzählte stolz, dass sie jetzt immun gegen Atomstrahlen sei, weil sie den sechsten Trainingskurs absolviert habe.
    Als die Schwester vom Orden des Tempels den Raum betrat, verstummten die Gespräche schlagartig. Ich hatte eine alte Jungfer mit Dutt erwartet, aber die Schwester war Mitte dreißig, hatte halblanges blondes Haar und ein hellwaches Gesicht. Sie trug ein schwarzes Kostüm mit einem goldenen, bumerangähnlichen Abzeichen am Revers und darunter eine dunkelgraue Bluse. Offensichtlich hatte der Modeschöpfer der KAP bei der Heilsarmee abgeguckt.
    »Hallo! Ich bin Sonja Zimmermann. Mein Rang innerhalb der KAP ist Geistwesen Klasse II. Ich bin zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit der Kirche in ganz Deutschland. Außerdem gehöre ich diesem Orden mit den langen Arbeitsverträgen an.«
    Das Publikum lachte.
    »Sie wissen ja, wir haben einen Vertrag über eine Million Jahre unterschrieben, abzuleisten auf der Erde oder anderswo.«
    Das Publikum lachte wieder. Es musste einen speziellen KAP-Humor geben.
    Da ich nicht gelacht hatte, schaute mich Sonja Zimmermann aufmerksam an. »Ich freue mich, dass wieder neue Mitglieder zu uns gestoßen sind. Für euch wird heute Abend manches unverständlich sein. Aber macht euch nichts draus. Das Wichtigste in eurer Situation ist: trainieren, trainieren und nochmals trainieren. Dann kommt alles andere von alleine.«
    Sonja Zimmermann ließ ihren Blick über das Publikum schweifen. »Was besagt die Philosophie von Ross W. Stocker? Richtig: Jeder Mensch kann den Zustand der Freiheit erreichen. Die Methode dazu ist seit vierzig Jahren der Welt bekannt: ›Geistiges Training‹. Viele Menschen haben trainiert oder trainieren immer noch. Inzwischen sind es Millionen. Aber was macht die Mehrheit? Sie will vom ›Geistigen Training‹ nichts wissen. Sie begnügt sich damit, zur Arbeit zu fahren, eine stumpfsinnige Arbeit zu verrichten, wieder nach Hause zu fahren, sich vor den Fernseher zu setzen und dann zu schlafen. ›Guten Tag! Wie geht's? Danke gut, und Ihnen?‹ So läuft doch die Kommunikation. Ist das das Leben von geistigen Wesen? Nein, das ist das Leben von Gemüse, dazu ausersehen, heranzuwachsen und im Suppentopf zu enden.«
    Sie machte eine tattrige alte Frau nach, und das Publikum schüttete sich aus vor Lachen. Die Zimmermann hob die Hand.
    »Machen wir uns nicht lustig über unsere Mitmenschen! Waren wir nicht selbst Gemüse? Haben wir nicht selbst so gelebt, bevor wir die Kirche für angewandte Philosophie entdeckten? Und ist es nicht unsere Aufgabe, das Gemüse zu retten?«
    Sie ging zur Seite, wo eine Schiefertafel an der Wand hing. Mit Kreide malte sie ein Hochhaus, ein Auto und ein paar Strichmännchen auf die Tafel. Darunter machte sie einen Strich.
    »Das ist die Erde. Hier lebt das Gemüse. Es arbeitet, schläft, arbeitet.«
    Ein paar Vorlaute kicherten.
    »Ross W. Stocker hat die Entdeckung gemacht, dass wir alle, auch dieses Gemüse hier, einmal Geistwesen waren.«
    Sie malte einige zackige Sterne mit Augen und Mund auf die Tafel.
    »Irgendwann, in grauer Vorzeit, sind die Geistwesen auf die Erde gekommen. Ganz langsam, Stück um Stück, Jahrtausend um Jahrtausend, haben sie ihre Fähigkeiten verloren. Sie sind herabgesunken zu Gemüse. Manche sind sogar Kieselsteine geworden. Ross W. Stocker war der Erste, der das erkannt hat. Es hat ihn unglaubliche Mühe gekostet. Beinahe wäre er darüber verrückt geworden. Doch mit titanischer Kraft hat er sich gerettet. Er wusste, dass er diese Erkenntnis verbreiten musste. Dazu hat er die Kirche für angewandte Philosophie gegründet. Und er erfand eine Methode, mit der die Geistwesen wieder rehabilitiert werden können: das ›Geistige Training‹.
    Zunächst trainierte er einzelne Menschen. Mit großem Erfolg, wie wir wissen. Er perfektionierte die Methode und bildete Trainer aus, die wiederum andere Menschen trainierten. Mittlerweile gibt es Tausende, ja Zehntausende von Geistwesen. Sie haben eine große Macht. Sie können sich außerhalb ihres Körpers bewegen, sie

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