Wilsberg 03 - Gottesgemuese
Kleinigkeiten«, sagte Sigi und dehnte dabei ihre Worte, »kannst du dich Frau Kunstmann widmen.«
Sechzig Minuten später griff ich zum Telefon.
II
An diesem Nachmittag brach in Münster das Chaos aus. Innerhalb von einer halben Stunde fiel so viel Schnee vom Himmel, dass die Räumfahrzeuge zusammen mit allen anderen Autos im Stau stecken blieben. Von der Innenstadt nach Sprakel – eine Strecke, für die man normalerweise zehn Minuten benötigt – brauchte ich anderthalb Stunden.
Endlich rutschte ich in die Straße, in der die Kunstmanns wohnten. Männer und Frauen waren emsig damit beschäftigt, die Bürgersteige freizuschieben. Niemand wollte die Schadenersatzklage eines zu Fall gekommenen Spaziergängers riskieren. Vor dem Haus der Kunstmanns türmten sich die Schneemassen. Frau Kunstmann hatte offensichtlich andere Sorgen.
Ich ließ meinen BMW in Richtung Bürgersteig gleiten und stieg aus. Drei Sekunden nach meinem Läuten öffnete Anja Kunstmann die Tür.
»Bei diesem Wetter habe ich nicht mehr mit Ihnen gerechnet.«
»Wenn sich ein Detektiv schon vom Wetter aufhalten lässt, sollte er lieber den Beruf wechseln.«
Sie lachte ein kurzes, dunkles Lachen. Es passte nicht ganz zu ihrem biederen Aussehen.
»Kaffee, Tee oder etwas Alkoholisches?«
»Tee«, sagte ich.
Ich folgte ihr in die Küche und lehnte mich gegen den Türrahmen, während sie einen Kessel mit Wasser aufsetzte und die Teekanne präparierte.
»Die Stille ist für mich ganz ungewohnt. Meistens tobt eine Horde Kinder durch das Haus. Ich habe Lisa und Johannes zu meiner Mutter gebracht. Sie glauben, dass ihr Vater auf einer Dienstreise in Amerika ist. Ich möchte nicht, dass sie beunruhigt werden.«
Sie drehte sich zu mir um. »Gehen wir doch ins Wohnzimmer. Da ist es gemütlicher.«
Das Wohnzimmer war, abgesehen von einer hellen Polstergarnitur, sparsam möbliert. An einer Wand streckte Albert Einstein seine Zunge heraus, an der anderen stand ein schwarzer Regalschrank mit Fernseher, Video- und Hi-Fi-Anlage und ein paar Büchern. Eine Glasfront öffnete den Blick auf einen kleinen Garten, in dem man unter den Schneemassen die Umrisse eines Sandkastens und einer Schaukel erkennen konnte.
Wir setzten uns so, dass ein Glastisch zwischen uns stand. Ich tastete nach der Schachtel Zigarillos in meiner Jackentasche, verzichtete aber darauf, sie herauszuholen. Mit Zigarillorauch macht man sich schnell unbeliebt.
Sie öffnete ihr Zigarettenetui und hielt es mir entgegen: »Möchten Sie?«
Dankbar nahm ich an.
Ich dachte noch über eine sinnvolle Eröffnungsfrage nach, als der Wasserkessel zu pfeifen begann. Anja Kunstmann verschwand in der Küche und kehrte nach zwei Minuten mit der Teekanne, zwei Tassen und einem Topf Honig zurück.
»Ich weiß zu wenig über die Kirche für angewandte Philosophie«, sagte ich. »Erzählen Sie mir mehr davon!«
Sie seufzte. »Notgedrungen bin ich zu einer Expertin geworden. Ich habe sogar mit dem Sektenbeauftragten der katholischen Kirche gesprochen.« Der Ansatz eines Lächelns überflog ihr Gesicht. »Er hat mir geraten, fest zu meinem Mann zu stehen. Der Glaube würde ihn auf den rechten Weg zurückbringen.«
Sie entfernte imaginären Staub von der Glasplatte. »Die Kirche für angewandte Philosophie ist von einem Amerikaner namens Ross W. Stocker gegründet worden. Er war Science-Fiction-Schriftsteller, ein ziemlich erfolgreicher sogar. Angeblich ist er auch Mitglied eines satanistischen Ordens gewesen. Irgendwann, Anfang der Fünfzigerjahre, erfand er das ›Geistige Training‹. Er behauptete, dass er die Mechanismen entdeckt habe, nach denen der menschliche Geist funktioniere, und dass es eine einfache Methode gebe, mit der alle seelischen Probleme beseitigt werden könnten. Er trat öffentlich auf und demonstrierte das ›Geistige Training‹ an Versuchspersonen. Tatsächlich muss es eine gewisse Wirkung gezeigt haben, denn bald scharten sich zahlreiche Anhänger um Stocker.
Natürlich bekam Stocker auch Ärger. Vor allem Psychologen und Psychiater bezeichneten ihn als Scharlatan und verlangten, dass er das ›Geistige Training‹ einstellen solle. Als der Wirbel in den Vereinigten Staaten zu groß wurde, setzte sich Stocker nach England ab. Mit dem inzwischen verdienten Geld kaufte er südlich von London ein großes Schloss. Dort gründete er 1959 die Kirche für angewandte Philosophie.«
»Dann gab es das ›Geistige Training‹ also schon vor der Kirche?«
»Sicher. Zunächst hatte das
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