Wilsberg 03 - Gottesgemuese
vermutlich hypochondrisch. Nach ihrem Gesichtsausdruck zu schließen, hätte sie einen Inder als Partner vorgezogen.
»Zunächst machen wir Theorie«, verkündete Shiba. »Dann üben wir das Training, und dann trainiert ihr euch gegenseitig.«
Sie verteilte an Claudia und mich jeweils eine Broschüre, die wir durchlesen sollten. Die Broschüre enthielt eine Menge Zeichnungen im Stil von Aufklärungsbüchern für Kinder und eine kurze Einführung in die stockersche Theorie. Es wurde erklärt, wie eine schmerzhafte Erinnerung entsteht und was sie mit dem Bewusstsein und dem Unterbewusstsein des Menschen macht. Das einzig Komplizierte daran war, dass Stocker für alles und jedes ein neues Wort erfunden hatte. Anschließend wurden die Grundregeln des ›Geistigen Trainings‹ erläutert.
Nach einer Stunde fragte Shiba, ob wir alles verstanden hätten, und als wir bejahten, holte sie zuerst Claudia und dann mich in einen Nebenraum.
Auf einem Stuhl saß ein Teddybär und glotzte mich an.
»Das ist der UE«, sagte Shiba. »Du bist der Trainer. Trainiere ihn!«
Ich gab mir alle Mühe, den Teddybär zu trainieren, aber er guckte gleichbleibend dumm aus seinem Pelz.
»So«, strahlte Shiba, als wir wieder zusammen waren, »jetzt dürft ihr euch gegenseitig trainieren.«
Dazu mussten wir ein paar Treppen hinaufsteigen und uns in einen Verschlag setzen, der durch Holzwände und Teppiche von ähnlichen Kabinen abgetrennt war, in denen, wie am gleichbleibenden Geräuschpegel zu erkennen war, bereits eifrig trainiert wurde.
»Am Anfang ist Georg der Trainer«, sagte Shiba. »Nach etwa einer Stunde wechselt ihr. Wenn ihr ein Problem habt, sagt es mir! Ich komme ab und zu vorbei.«
Zwischen Claudia und mir stand ein schmaler Tisch mit einer Buchstütze. Darauf legte ich die Broschüre, um die Formeln abzulesen: »Schau an die Wand! Wenn ich von eins bis sechs zähle, wirst du die Augen zumachen. Du wirst dich später an alles, was du gesagt hast, erinnern. Wenn die Erinnerung zu unangenehm wird, kannst du das Training abbrechen. Ich zähle jetzt. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs.«
Claudia schloss brav die Augen.
»Versuche jetzt, dich an ein Ereignis zu erinnern, das dir unangenehm ist!«
Claudia öffnete die Augen. »Es heißt nicht ›Versuche dich zu erinnern‹, sondern ›Erinnere dich‹.«
»Entschuldigung! Erinnere dich an ein Ereignis, das dir unangenehm ist! Indem du mehrmals durch das Ereignis hindurchgehst, wird es seinen unangenehmen Charakter verlieren.«
Claudia machte einen Schmollmund und überlegte. »Ich erinnere mich an ein Ereignis aus meiner Kindheit. Ich bin von der Schaukel gefallen und habe mir den Kopf verletzt.«
»Sehr gut. Jetzt gehe zum Anfang des Ereignisses zurück!«
»Ich war sieben Jahre alt. Zusammen mit anderen Kindern bin ich auf einen Spielplatz gegangen. Da stand eine Schaukel …«
Mit dieser und ähnlich niveauvollen Geschichten vertrieben wir uns die nächsten vier Stunden. Dabei musste der jeweilige Trainer die trainierten Ereignisse in ein Protokollformular eintragen. Ich nahm an, dass die KAP dadurch einen guten Überblick über die intimsten Erlebnisse ihrer Mitglieder bekam.
Als ich fast alle meine Kindheitsverletzungen ausgebeutet hatte, bedeutete Shiba uns, dass wir aufhören sollten. Auf dem Weg nach unten fragte ich Claudia, ob sie mit mir essen gehen wolle.
»Würde ich ja gerne, aber ich habe noch einen Gesprächstermin.«
»Heute Abend gibt es einen Vortrag über die angewandte Philosophie von Ross Stocker«, sagte Shiba. »Da solltet ihr unbedingt kommen. Es spricht eine Schwester vom Orden des Tempels.«
»Was ist das denn?«, fragte ich.
Shibas Gesicht zeigte Ehrfurcht. »Die Mitglieder des Ordens widmen ihr Leben ganz der Kirche für angewandte Philosophie.«
Ich beschloss, noch ein paar Stunden in Borbeck zu verbringen.
Diesmal wählte ich ein chinesisches Restaurant. Entgegen der Regel, die Alkohol während des ›Geistigen Trainings‹ verbietet, genehmigte ich mir zwei Bier und einen Reiswein. Das Training war schon hart genug, die Schwester vom Orden des Tempels würde wohl noch härter werden. Außerdem hatte ich noch nichts herausgefunden. Ich sagte mir, dass das Gründe genug seien, die beknackte Regel zu brechen.
Um halb neun mischte ich mich unter die Menschenmenge, die in den Vortragssaal strömte. Ich schätzte sie auf sechzig bis siebzig Personen, anscheinend waren KAPler aus dem gesamten Ruhrgebiet nach Borbeck gekommen. Claudia
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