Wilsberg 03 - Gottesgemuese
schritt durch die graumarmorne Eingangshalle und ließ mich vom Lift in die siebte Etage befördern.
Die Vorzimmerdame sagte mir, dass ich einen Moment warten solle, Herr Dr. Gross sei gerade in einer Besprechung.
Fünf Minuten später schoss Alfons Gross über den mit dicken Teppichen ausgelegten Gang.
»Herr Wilsberg, da sind Sie ja! Kommen Sie doch herein! Fräulein Menke, zwei Tassen Kaffee, bitte!«
Gross' Büro hatte die Größe eines halben Basketballfeldes, die Panoramafenster zeigten die komplette Silhouette von Münster. Hätte er die nötige Muße gehabt, hätte er jeden Morgen mindestens zwanzig Kirchtürme zählen können.
Ich arbeitete mit Gross seit einigen Jahren zusammen. Er war im Vorstand der Sächsischen Versicherung dafür zuständig, die Auszahlungsrate so niedrig wie möglich zu halten, mit allen legalen und manchmal auch mit unkonventionellen Methoden. Für das Unkonventionelle engagierte er mich.
Wir setzten uns in die Besprechungsecke, in der mein eigenes Büro locker Platz finden würde. Mit dem linken Auge fixierte Gross mich, mit dem rechten guckte er zur Tür.
»Was macht unser Juwelier, Herr Wilsberg? Gibt es etwas Neues?«
»Leider nein. In den letzten sieben Tagen ist er immer nur von seinem Haus zu seinem Laden gefahren und abends zurück. Keinen Umweg, keinen Schlenker, keine verdächtigen Gestalten in seinem Laden. Abends geht er nicht aus und er erhält auch keinen Besuch. Der perfekte Einsiedler.«
»Ts, ts, ts.« Gross schüttelte missbilligend den Kopf. »Sie wissen, dass die Zeit drängt. Nächsten Donnerstag müssen wir ihm einen Scheck über 500.000 geben, wenn wir bis dahin keinen Hinweis haben, dass an seiner Schadensmeldung etwas falsch ist. Das wäre bitter. Denn aufgrund meiner langjährigen Erfahrung sage ich Ihnen: der Mann lügt. Ich rieche das. Er schickt seine Angestellte weg, um Briefmarken zu kaufen. Eine halbe Stunde später findet sie ihn mit einer Beule an der Stirn. Keine Zeugen, niemand, der diese beiden Gangster gesehen hat.«
»Außer Karl Hagedorn, unserem Juwelier.«
»Aber er kann sie nicht beschreiben. Es sei alles so schnell gegangen. Außerdem hätten sie heruntergeklappte Skimützen getragen.«
»Eine durchaus übliche Bekleidung für Gangster«, warf ich ein.
»Ach, hören Sie doch auf! Das stinkt zum Himmel.«
»Er hat keine Schulden«, rekapitulierte ich. »Er ist Witwer, seine Tochter bestens versorgt. Was soll er mit dem ganzen Geld?«
»Vielleicht ist er Spieler. Oder er will den Laden abstoßen und seinen Lebensabend in Saus und Braus in der Karibik verbringen. Was weiß ich.«
»Ich fürchte, dass wir bis Donnerstag zu keiner neuen Erkenntnis kommen«, gab ich zu bedenken.
Gross richtete sein anderes Auge auf mich. »Die einfache Beobachtung reicht eben nicht. Sie müssen sich was Besseres einfallen lassen.«
»Sie meinen, ich …«
»Die Details interessieren mich nicht«, unterbrach er mich. »Bringen Sie mir ein Resultat! Auf welchem Wege Sie es erzielen, ist Ihre Sache. Sie wollen doch weiterhin gute Aufträge von der Sächsischen bekommen, oder nicht?«
»Verstehe«, sagte ich.
»Ich wusste, dass wir uns verstehen würden«, strahlte Gross. Er hatte seinen Kaffee nicht angerührt. Meiner schmeckte ein wenig zu bitter.
Umgezogen und in lässiger Freizeitkleidung tauchte ich am frühen Nachmittag im Zentrum für Geistiges Training in Essen-Borbeck auf. Shiba zog tadelnd ihre schwarzen Augenbrauen zusammen.
»Wo warst du denn heute morgen? Claudia hat auf dich gewartet.«
»Ach, habe ich das nicht gesagt? Ich hatte heute morgen einen wichtigen Termin.«
Schon wieder lächelnd, hob Shiba den Zeigefinger. »Ross Stocker sagt: Nur wer Selbstdisziplin übt, kann den Zustand der Freiheit erlangen.«
»Ich werde mich bessern«, versprach ich.
Claudia, die den ganzen Morgen über Stockers Theorie gebüffelt hatte, wofür sie mir nachträglich leidtat, empfing mich mit muffigem Gesichtsausdruck. Zur Vervollständigung ihres Indienkostüms hatte sie heute ein Kopftuch angelegt. Und ich vermutete, dass ich ihr immer noch zu deutsch und zu wenig indisch war.
Shiba scheuchte uns nach oben in die Trainingszelle. Auf der Treppe erzählte mir Claudia, dass man ihr einen zweijährigen Arbeitsvertrag angeboten habe. Sie würde kostenlos Training erhalten, dafür müsste sie im Zentrum putzen.
»Wirst du das machen?«, fragte ich.
»Ich weiß nicht. Ich glaube, das Training ist sehr gut für mich. Und da ich im Moment
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