Wilsberg 13 - Wilsberg isst vietnamesisch
kleine Tierchen ...«
»Bitte!«, unterbrach ich ihn.
»Siehst du! Du möchtest es dir nicht mal vorstellen. Ich habe schon Ärzte erlebt, die bei Ekelleichen ihre Diagnose von der Wohnungstür aus getroffen haben. Und auch wir Kripoleute haben keine große Lust, uns diesen Leichen zu nähern. Der Geruch steckt einem noch tagelang in der Nase.« Er verstummte. »Es müsste mehr Obduktionen geben.«
»Wie wahr!«, stimmte ich ihm zu.
Der Hauptkommissar schaute mich an. »So! Das war die Sprechstunde für heute. Ausnahmsweise muss ich noch arbeiten.«
»Ich würde gerne noch einmal mit Rainer Wiedemann sprechen.«
»Du bist nicht sein Anwalt, Wilsberg«, fuhr Stürzenbecher auf. »Wie komme ich dazu, dir dauernd den Beschuldigten vorzuführen?«
»Das ist der letzte Gefallen. Für heute.«
Rainer Wiedemann durchlebte die zweite Phase des Gefängniskollers. Er jammerte, dass sich alle Welt gegen ihn verschworen habe, dass er das Gefängnis nicht mehr ertragen könne, dass ihm die Decke auf den Kopf falle, dass er in der Zelle keine Luft bekomme, dass er nachts nicht schlafen könne.
»Reißen Sie sich zusammen!«, riet ich ihm. »Sie werden es überleben.«
»Sie haben ja keine Ahnung. Die wollen mich fertig machen.«
»Ich weiß. Und Sie können vor Selbstmitleid zerfließen oder dagegen kämpfen.«
Er war beleidigt. Schon ein kleiner Fortschritt.
»Wollen Sie mir helfen?«
Er nickte.
»Erzählen Sie mir, wie Jessica den Tod ihrer Tante Helga aufgenommen hat!«
Wiedemann sackte wieder in sich zusammen. »Was hat das mit mir zu tun?«
»Vielleicht mehr, als Sie denken. Also los! Versuchen Sie sich zu erinnern!«
»Helga ist Ende Januar gestorben. Ich weiß noch, dass es bei der Beerdigung eiskalt war.«
»Wie hat Jessica vom Tod ihrer Tante erfahren?«
»Eine Nachbarin hat sie angerufen, glaube ich. Doktor Thalheim war schon da. Er hat Jessica beruhigt, Helga wäre friedlich gestorben, sie habe nicht leiden müssen.«
»Hatte Jessica damit gerechnet?«
»Nein. Helga war fünfundsiebzig, die ältere Schwester von Jessicas Mutter. Sie hatte Osteoporose und die üblichen Alterswehwehchen. Aber ansonsten ging es ihr gut. Niemand konnte voraussehen, dass sie so plötzlich sterben würde.«
»Und das hat Jessica oder Sie nicht misstrauisch gemacht?«
»Nein«, sagte Wiedemann nach längerem Nachdenken. »Jessica hat Doktor Thalheim vertraut. Der hätte doch gemerkt, wenn etwas nicht gestimmt hätte.«
»Vielleicht«, sagte ich. »Stimmt es, dass Helga Dickmöller in ihrer Wohnung Geld versteckt hatte und dass es nach ihrem Tod verschwunden war?«
»Das ist richtig. Jessica hat immer versucht, Helga zu überreden, das Geld zur Bank zu bringen.«
»Um wie viel ging es dabei?«
»Um etliche tausend Mark. Nach der Beerdigung haben wir die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt. Die anderen Wertsachen, Schmuck, Perlen, waren noch da, aber das Geld war weg.«
»Und welche Erklärung haben Sie dafür?«
Er schaute zur Seite.
»Herr Wiedemann!«, mahnte ich ihn.
»Wir haben uns darüber gestritten«, sagte er leise. »Für mich war klar, dass das nur Susanne gewesen sein konnte.«
»Vor oder nach dem Tod von Helga?«
Es dauerte eine Weile, bis er die Tragweite meiner Frage begriffen hatte. »Woher soll ich das wissen?«
VIII
Am späten Nachmittag fuhr ich zum zweiten Mal an diesem Tag nach Sankt Mauritz. Die Praxis von Doktor Thalheim klemmte zwischen einem Supermarkt und einer Apotheke an einer Ausbuchtung der Mondstraße, die man hochtrabend als Einkaufszentrum des Viertels bezeichnen konnte. Die Sprechstunde des Allgemeinmediziners war seit einer Viertelstunde vorüber und die Praxistür verschlossen. Ich schellte und eine Arzthelferin erzählte mir, was ich bereits wusste. Ich sagte, dass ich weder Patient noch krank sei und Doktor Thalheim in einer anderen Angelegenheit sprechen wolle. Als ich den Namen Jessica Wiedemann erwähnte, zeigte sich auf dem Gesicht der Arzthelferin ein Ausdruck von Bestürzung, den ich nicht recht einordnen konnte. An den Tod von Kunden musste sie sich in ihrem Beruf doch eigentlich längst gewöhnt haben.
Nach einem kurzen, praxisinternen Telefonat erfuhr ich, dass Doktor Thalheim ausnahmsweise bereit sei, mich zu empfangen. Allerdings erst nachdem er sämtliche Patienten behandelt habe. Zum Glück saßen im Wartezimmer nur noch eine alte Frau und ein junger Mann, die auf die Segnungen der Pharmaindustrie warteten. Ich blätterte den Zeitschriftenstapel durch und
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