Wilsberg 14 - Wilsberg und der tote Professor
setzte mich zu Marie.
»Welche Schätze liegen denn da unten im Keller?«
»Günter hat sich mit Geheimsprachen beschäftigt und alles gesammelt, was er in die Finger bekam: Tondokumente und schriftliche Zeugnisse. Das ganze Zeug müsste gesichtet und katalogisiert werden. Erst dann kann man den Wert bestimmen.«
»Und warum ist Daniel so scharf darauf?«
»Ach«, sie setzte das Glas ab, »das ist eine alte Geschichte. Vermutlich denkt er, er kann sich mit dem Material profilieren. Daniel hat immer darunter gelitten, dass sein Vater ihn nicht ernst genommen hat. Es ist nicht leicht, der Sohn eines bekannten Professors zu sein. Daniel hat in Germanistik promoviert, wie sein Vater. Aber für eine Hochschulkarriere hat's nicht gereicht. Soviel ich weiß, schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs durch, arbeitet als Lektor in einem Druckkostenzuschussverlag und schreibt Werbetexte. Ich habe einige Male versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen, doch er hat abgeblockt. Ich war für ihn die Frau, die seine Mutter verdrängt hat, die Projektionsfläche seiner Lebensenttäuschung.« Sie schaute mich an. »Haben Sie Kinder?«
»Eine Tochter. Sie wird im nächsten Monat zehn.«
»Sie leben getrennt?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Intuition.« Sie lächelte. »Sie haben immer Zeit, wenn ich Sie anrufe. Ich höre keine Stimmen im Hintergrund, kein Schatz, gehst du noch mal weg? .«
»Sie haben Recht, wir leben getrennt, Sarah wächst bei ihrer Mutter auf.«
»Sehen Sie sie regelmäßig?«
»Jedes zweite Wochenende. Ich bemühe mich, an ihrem Leben teilzunehmen, aber es ist schwierig. Kinder sind sehr geschickt darin, Erwachsene gegeneinander auszuspielen.«
»Nicht, wenn sich die Eltern einig sind.«
»Dazu müsste ich mich mit meiner Exfrau besser verstehen.«
Draußen zuckten die ersten Blitze am Nachthimmel, der Donner war noch weit entfernt.
Ich trank mein Glas aus. Ein zweites konnte ich mir nicht erlauben, wenn ich noch nach Hause fahren wollte. Außerdem begann das Gespräch, mich zu deprimieren.
Ich stand auf. »Ich fahre dann mal.«
»Jetzt schon?«
»Ich denke, Sie haben nichts zu befürchten.«
Sie stand ebenfalls auf und stellte sich vor mich. »Können Sie nicht heute Nacht hier bleiben? Nur diese eine Nacht? Ich bin einfach ein bisschen ängstlich. Vielleicht hat Daniel ja noch einen zweiten Schlüssel.«
»Das halte ich für sehr unwahrscheinlich.«
»Bitte! Sie haben doch keine Verpflichtung, oder?«
Ich atmete aus. »Also gut, ich bleibe.«
Wir tranken noch ein zweites Glas und redeten über Kinder und die Welt. Dann half mir Marie, das Sofa in ein Schlafsofa zu verwandeln, gab mir Bettzeug und verschwand mit einem keuschen Gutenachtwunsch in die obere Etage. Zum Glück hatte ich immer ein Medikamentenset für solche Notfälle im Auto: Antihistamintabletten, Pillen gegen meinen überhöhten Cholesterinspiegel, eine Creme für meine neurodermitisgeplagte Haut, alles, was ich brauchte, um die Nacht zu überstehen.
Als ich endlich unter der dünnen Bettdecke lag, war meine Müdigkeit verflogen. Das Gewitter blitzte und donnerte jetzt direkt über dem Haus, kombiniert mit einem heftigen Regenschauer.
Ich dachte über Daniel Kaiser nach. Hatte er nicht auch ein Motiv für den Mord? Das klassische Motiv des Sohnes, der seinen übermächtigen, hartherzigen Vater beseitigen will? Und ich dachte über Marie Kaiser nach. Einerseits wirkte sie offen und ehrlich, andererseits konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass es noch eine unbekannte Dimension der Geschichte gab, die sie nicht preisgeben wollte.
Plötzlich öffnete sich die Tür. Ich brauchte nur eine Zehntelsekunde, um mich aufzurichten.
»Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken.« Sie trug ein fast durchsichtiges Nachtkleid.
»Keine Ursache«, keuchte ich.
Sie kam näher. »Es ist blöd, ich weiß. Und wenn ich nicht so großes Vertrauen zu Ihnen hätte ...«
»Ja?«
»Ich kann nicht schlafen.«
»Ich auch nicht.«
»Darf ich mich fünf Minuten zu Ihnen legen? Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will nicht mit Ihnen schlafen. Ich möchte nur, dass Sie mich in den Arm nehmen.«
Sie war nach einer Minute eingeschlafen und ich war wacher, als ich jemals an diesem Tag gewesen war. Ihr Kopf lag auf meinem Arm, ihre rechte Brustwarze berührte meinen Oberkörper, wenn sie ausatmete, schmiegte sich ihr Bauch an meinen Oberschenkel. Sie roch nach einem Hauch Parfüm, gemischt mit einem Hauch Angstschweiß. Es kostete einige
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