Wilsberg 14 - Wilsberg und der tote Professor
für sich behalten hätten.
»Wie weit ist das entfernt?«
»Fünfundzwanzig Kilometer.« Er beschrieb mir den Weg.
Ich sagte, dass ich in einer halben Stunde bei ihm sein würde.
VI
Ich fuhr auf Landstraßen nach Nordwesten. Hinter Havixbeck wurde die Straße kurviger und die münsterländische Parklandschaft durch bewaldete Hügel ersetzt, die, mangels echter Bodenerhebungen im weiten Umkreis, den etwas hochtrabenden Namen Baumberge trugen.
Kohlmann hatte mir geraten, am Longinusturm zu parken. Der Turm stand auf dem knapp zweihundert Meter hohen Westerather Berg, einem Plateau, das einen weiten Ausblick in die Landschaft erlaubte. Nur zu dem Zweck, diese Aussicht noch zu verbessern, war der Turm Ende des 19. Jahrhunderts von einem Verein wanderwütiger Akademiker erbaut worden, aus Baumberger Sandstein und im Stil des seinerzeit aktuellen wilhelminischen Historismus. Seinen Namen hatte der Longinusturm nicht von einem germanischen Feldherrn, sondern vom ersten Vorsitzenden des Vereins, der wegen seiner Körpergröße Longinus genannt wurde und noch vor Fertigstellung des Turms seine Wanderleidenschaft mit dem Tod bezahlen musste. Longinus stolperte nämlich über einen verrosteten Stacheldraht und starb an Wundstarrkrampf.
Das alles wusste ich, weil ich, noch zu Zeiten meiner Ehe, mit Imke und Sarah einen Ausflug zum Longinusturm gemacht und sämtliche Tafeln und Prospekte gelesen hatte, die mir vor die Augen und in die Finger kamen, während mich Imke für die Schönheit der Natur begeistern wollte.
Auf dem Parkplatz neben dem Turm standen etliche Autos und an den Holztischen vor dem Turmcafé füllten überwiegend betagtere Wanderfreunde ihr Kaloriendepot mit Kaffee und Kuchen auf.
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts war der Turm ein merkwürdiges Zwitterwesen, denn auf den historischen Zinnen pappten drei Scheiben mit Antennenfühlern im UFO-Stil, die das Gebäude zu einem Sendemast umfunktionierten. Genau deshalb war der Turm 1979 sogar bundesweit in die Schlagzeilen geraten. Damals, als im Fernsehen die Holocaust-Serie lief, hatten Neonazis versucht, den Turm in die Luft zu sprengen. Zwar diente der Turm gar nicht der Übertragung von Fernsehsendungen, sondern als Relaisstation der Deutschen Bundespost, aber Rechtsradikale standen ja weder damals noch heute in dem Ruf, besonders intelligent zu sein.
Hinter dem Turm begann ein asphaltierter Weg, der durch hektarweite, brennnesselgesäumte Getreidefelder und an zwei dumpf orgelnden Windgeneratoren vorbei zu einem Waldstück führte. Nach etwa vierhundert Metern hatte ich den Wald erreicht und ging einen Abhang hinunter. In der Ferne, von Dunst verschleiert, war der Zwiebelturm der Nottulner Kirche zu erkennen.
Am Fuß des Abhangs, hatte Kohlmann gesagt, sollte ich mich nach links wenden. Tatsächlich gab es einen schmalen Lehmweg, der sich im Unterholz verlor. Allmählich fragte ich mich, ob es wirklich klug war, den Hobbyjäger in dieser Einöde zu treffen. Die wenigen Spaziergänger, die mir begegnet waren, hatte ich längst aus den Augen verloren. Der Lehmweg führte über eine kleine Kuppe und dann entdeckte ich die hölzerne Jagdhütte.
Plötzlich fiel ein Schuss. Ob er mir galt oder einer frei fliegenden Ente, konnte ich nicht entscheiden. Aber auszuschließen war nicht, dass mich jemand über den Haufen schießen wollte. Vorsichtshalber und meinem Drang folgend, nicht einfach dumm herumzustehen, warf ich mich hinter ein Gebüsch und blieb erst einmal liegen. Vom Schützen war nichts zu sehen. Der Schuss dröhnte noch in meinen Ohren. Deshalb hörte ich die Schritte erst, als sie nur noch ein paar Meter entfernt waren. Ich drehte mich um.
»Entschuldigung, ich habe Sie für ein Wildschwein gehalten.«
Der Mann trug eine grüne Hose, ein hellgrünes Hemd und, trotz der Hitze, eine mittelgrüne Weste. Er war etwa Ende dreißig, einigermaßen schlank und hatte sein schütteres dunkles Haar mit einem glänzenden Haarkosmetikprodukt nach hinten gekämmt, sodass seine Stirn höher wirkte als genetisch vorgesehen. Der Lauf des Jagdgewehrs, das er locker im Arm hielt, war auf den Boden gerichtet.
Ich stand auf und wischte mir den Dreck von der Kleidung. Aus dieser Entfernung konnte er mich ohnehin nicht verfehlen.
»Sehr witzig. Ich werde Sie anzeigen.«
»Versuchen Sie's!« Er grinste. »Es wird Ihnen schwer fallen zu beweisen, dass ich auf Sie gezielt habe.«
»Soweit ich weiß, haben wir keine Jagdsaison.«
»Der Schuss hat sich versehentlich
Weitere Kostenlose Bücher