Wilsberg 14 - Wilsberg und der tote Professor
hatte es eilig. »Ich muss weg.«
»Das verstehe ich.« Sie begleitete mich zur Tür.
»Ich hoffe, dass es nichts Ernstes ist«, sagte ich unkonzentriert. »Aber es kann sein ...«
Marie nickte.
Ich riss mich zusammen. »Sie sollten heute Nacht nicht allein im Haus bleiben.«
»Das habe ich auch nicht vor. Ich will sowieso zu meinen Kindern. Ich bin nur hergekommen, um ein paar Dinge zu regeln und mich um die Beerdigung meines Mannes zu kümmern.«
»Okay.« Ich hörte schon nicht mehr zu.
»Ich wünsche Ihnen und Ihrer Tochter alles Gute«, rief Marie mir nach, als ich zum Auto rannte. »Und wenn es Ihnen nicht zu viel ausmacht, rufen Sie mich doch bitte an, sobald Sie etwas wissen! Ich würde mir sonst Sorgen machen.«
»Werde ich«, rief ich zurück, bevor ich einstieg.
Dann raste ich los. Ich fuhr von Gievenbeck weiter nach Roxel. Dort gelangte man über einen Versorgungsweg zur Raststätte Münsterland. Den Weg zu benutzen war zwar verboten, allerdings interessierte mich das im Moment weniger. Am Autobahnkreuz Münster-Süd wechselte ich von der A 1 auf die A 43, nahm die nächste Ausfahrt und bretterte auf der B 235 durch Senden. Das nächste Städtchen war bereits Lüdinghausen.
Imke und ihr Ehemann Carl besaßen ein Reihenhaus in einem Neubaugebiet. Carl war Abteilungsleiter für irgendwas bei einem Versicherungskonzern, dessen Bezirksverwaltung in Münster ihren Sitz hatte. Mit dem Reihenhaus und der verkrüppelten Zierkirsche vor dem Haus hatte sich Carl wahrscheinlich zwei seiner drei Lebensziele erfüllt. Abteilungsleiter für irgendwas sind nicht besonders wählerisch bei ihren Lebenszielen.
Auf der gepflasterten Straße vor dem Haus stand ein Polizeiwagen. Wenigstens schien die Lüdinghauser Polizei aus ihrem Tiefschlaf erwacht zu sein.
Ein älterer Polizist mit Bierbauch und zwei Sternen auf der Schulter, die ihn als Oberkommissar auswiesen, vermutlich der örtliche Polizeichef, stand zusammen mit einem jüngeren Polizisten in Imkes Wohnzimmer. Auf dem Tisch lagen Fotos von Sarah aus der jüngeren Vergangenheit.
Der Oberkommissar musterte mich von oben bis unten. »Sie sind also der Vater?«
»Ja. Und Sie haben hoffentlich eine Suchaktion eingeleitet.«
»Nun mal langsam!«, sagte der Oberkommissar gemütlich.
»Nein«, fuhr ich ihn an. »Mit Langsamkeit kommen wir nicht weiter. Sie wissen genauso gut wie ich, dass in einem solchen Fall jede Minute zählt. Ich möchte, dass Sie alles mobilisieren, was zur Verfügung steht. Und das heißt, dass Sie Verstärkung aus Münster anfordern müssen.«
»Erstens«, sagte der Oberkommissar immer noch bedächtig, »gehören wir zum Kreis Coesfeld, Münster ist für uns nicht zuständig. Und zweitens tun wir alles, was nach Lage der Dinge erforderlich ist.«
»Das darf doch nicht wahr sein!«, schnauzte ich ihn an. »Wollen Sie mir jetzt mit bürokratischen Vorschriften kommen?«
»In der Tat habe ich meine Vorschriften. Wo kämen wir denn hin, wenn die Polizei nicht mehr nach ihren Vorschriften handeln würde?«
Ich schluckte den Kommentar herunter. »Und was heißt ›alles‹? Wie viele Leute haben Sie im Einsatz?«
»Es sind zwei Wagen unterwegs, die nach Ihrer Tochter suchen.«
»Zwei Wagen?« Vor meinen Augen blitzten rote Sterne. Ich musste mich an einer Sessellehne festhalten.
»Georg«, beschwichtigte Imke, »es bringt doch nichts, sich mit Herrn Roggenkemper zu streiten.«
Ich holte Luft. Imke hatte Recht. Der Ortssheriff würde vermutlich auf stur schalten, wenn ich mich weiter mit ihm anlegte.
»In Ordnung«, sagte ich ruhig. »Wie werden Sie vorgehen?«
Roggenkemper schaute auf seine Uhr. »Wir kontrollieren noch eine Stunde lang alle Straßen und Feldwege der Umgebung. Falls wir bis dahin kein Lebenszeichen Ihrer Tochter erhalten haben, informiere ich die Kreispolizei, die über einen Großeinsatz entscheiden muss.«
Im Türschloss drehte sich ein Schlüssel.
Wir starrten alle gebannt zur Tür, aber es war nicht Sarah, die hereinkam, sondern Carl, der in seinem blauen Anzug, dem weißen Hemd und der gestreiften Krawatte aussah, als wollte er uns eine Versicherungspolice verkaufen.
»Liebes!« Carl legte seinen Arm um Imkes Schultern. »Ich bin so schnell wie möglich gekommen.«
»Wer sind Sie denn?«, fragte Roggenkemper lauernd.
»Carl ist mein Ehemann«, erklärte Imke. »Sarah ist meine Tochter aus erster Ehe.«
»Aha.« Anscheinend war es für Roggenkemper jetzt klar, dass in solchen zerrütteten
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