Wilsberg 14 - Wilsberg und der tote Professor
gemacht.«
»Warum?« Sie schaute schon wieder zum Fernseher. »Ich wollte dich einfach mal besuchen.«
»Du weißt, dass du mich jederzeit besuchen kannst, aber du musst es Imke sagen.«
Sie antwortete nicht.
»Deine Mutter hat große Angst bekommen. Ich übrigens auch. Imke hat alle deine Freundinnen angerufen und die Polizei sucht seit Stunden die Umgebung von Lüdinghausen ab.«
»Wegen der bösen Männer?«, fragte Sarah ironisch. »Vor denen habe ich keine Angst.«
»Männer, die sich an kleinen Mädchen vergreifen, sind nun mal eine Tatsache. Und Eltern, die sich keine Gedanken machen, wenn ihre Tochter von der Schule nicht nach Hause kommt, haben die Bezeichnung wohl kaum verdient.«
»Papa, darf ich jetzt die Sendung zu Ende gucken?«
Ich zeigte auf den Anrufbeantworter. »Du hast gehört, dass ich hier angerufen habe. Warum hast du den Hörer nicht abgenommen?«
»Kein Bock.«
Langsam wurde ich wütend. »Sarah, ich möchte wissen, warum du weggelaufen bist.«
Sie verdrehte theatralisch die Augen. »Können wir nicht später darüber reden?«
»Meinetwegen. Ich rufe jetzt deine Mutter an.«
Ich ging ins Büro, damit Sarah nicht mithörte.
»Gott sei Dank!«, seufzte Imke. »Ich komme sofort und hole sie ab.«
»Das halte ich für keine gute Idee«, entgegnete ich. »Sie rückt nicht damit heraus, was sie zu ihrer Flucht bewegt hat.«
»Flucht? Ist das nicht übertrieben? Sie ist schließlich einfach nur zu dir gefahren.«
»Eine kleine Flucht. Beim nächsten Mal fährt sie vielleicht weiter weg. Und sie ist sich der Symbolik ihrer Handlung durchaus bewusst, auch wenn sie es nicht zugibt. Mir wäre es lieber, sie würde die Nacht hier verbringen. Morgen ist Samstag, da hat sie sowieso keine Schule. Ich denke, dass ich sie heute Abend dazu kriege, die Wahrheit zu sagen.«
Imke schluckte. »Dann lass mich wenigstens mit ihr reden.«
Ich stellte das Gespräch ins Wohnzimmer durch und drückte Sarah den Hörer in die Hand. »Deine Mutter!«
Der Teil des Telefonats, den ich mitbekam, klang so ähnlich wie das Gespräch, das ich mit Annika geführt hatte. Er bestand hauptsächlich aus genervten Jas und Neins.
Nach drei Minuten gab mir Sarah den Hörer zurück. Ich vereinbarte mit Imke, dass ich Sarah am nächsten Morgen gegen zehn Uhr zu ihr bringen würde.
»Bist du damit einverstanden?«, fragte ich Sarah.
»Jahah.«
»Ich mache dir einen Vorschlag: Ich kaufe jetzt ein und koche uns was Leckeres. Danach reden wir. Okay?«
»Wenn's sein muss.«
Ich deutete auf den Rucksack, der an der Couch lehnte. »Was ist mit deinen Schularbeiten?«
»Hab ich schon gemacht.«
Ich nickte. Der Rucksack sah aus, als habe sie ihn nach ihrer Ankunft fallen gelassen und nicht wieder angerührt. Aber das war ein nebensächliches Problem.
Bevor ich zum Supermarkt ging, rief ich Marie an und erzählte ihr, dass Sarah zwar unversehrt aufgetaucht sei, aber nicht über die Gründe ihres seltsamen Verhaltens reden wolle.
Marie war erleichtert und zugleich besorgt: »Was glauben Sie denn, was dahinter steckt?«
»Fragen Sie mich was Leichteres! Nachher erfahre ich hoffentlich mehr.«
Ich wollte schon das Gespräch beenden, als Marie sagte: »Übrigens, nachdem Sie gegangen sind, habe ich noch ein bisschen im Arbeitszimmer meines Mannes herumgewühlt. Dabei bin ich auf eine interessante Sache gestoßen, die Sie sich unbedingt ansehen sollten.«
»Gut.« Mit den Gedanken war ich noch bei meiner Tochter. »Wann haben Sie Zeit?«
»Ich könnte morgen früh zum Haus kommen. Meine Eltern wohnen in Hiddingsel. Von da aus brauche ich nur eine halbe Stunde.«
»Sagen wir um elf?«
Marie versprach, da zu sein.
Auf dem Weg zum Supermarkt entschied ich mich für Canard à l'Orange, in der abgespeckten Version. Sarah mochte Fleisch nur, wenn es nicht nach Tier aussah, also kaufte ich keine ganze Ente, sondern vier Entenbruststücke, dazu Karotten, Zwiebeln, Entenfond, ein Fläschchen Grand Marnier und Orangen für die Soße, Klöße als Beilage, außerdem Zutaten für einen gemischten Salat und Eis als Dessert. Wenn das nicht reichte, um eine Zehnjährige zum Reden zu bringen, wusste ich es auch nicht.
Sarah kam in die Küche, als ich gerade den Orangensaft und den Grand Marnier in die Pfanne goss, wo sie mit dem flüssigen Zucker unter lautem Zischen eine transitorische Verbindung eingingen.
Sarah betrachtete fasziniert die unförmigen Orangenbonbons. »Was wird das denn?«
»Die Soße«, erklärte ich.
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