Wilsberg 14 - Wilsberg und der tote Professor
erhalten eine Kurzmitteilung: Verpiss dich, Schnüffler! Das war eine Nachricht von ...« Es folgte eine Handynummer, die ich mir mit meinem chronisch schlechten Zahlengedächtnis nicht merken konnte.
Als ich mich wieder auf die Couch setzte, stieß ich mit dem Bein gegen Sarahs Rucksack. Ich hob den Rucksack hoch und wunderte mich über das Gewicht.
Erstaunlich, was Kinder alles mit sich herumschleppen mussten. Vielleicht, dachte ich weiter, sollte ich mal tun, wofür ich schon in der SMS beschimpft worden war: schnüffeln.
In der nächsten halben Stunde nahm ich mir den Inhalt des Sacks gründlich vor.
Am nächsten Morgen holte ich Brötchen vom angesagtesten Bäcker des Kreuzviertels. Wir frühstückten ausgiebig und verloren kein Wort über die Ereignisse des vergangenen Tages.
Dann brachte ich Sarah nach Lüdinghausen. Diesmal nahm ich nicht die Autobahn, sondern fuhr gemächlich über die Hammer Straße nach Süden.
Kurz hinter Ascheberg sagte Sarah: »Papa, wär das schlimm, wenn ich nicht aufs Gymnasium komme?«
»Nein, das wäre nicht tragisch. Ich bin selbst auf der Realschule gewesen und erst später zum Gymnasium gewechselt.«
»Aber Gymnasium ist doch besser?«
»Sicher. Für die interessanteren Berufe braucht man das Abitur und ein Hochschulstudium. Zweifelst du daran, dass du aufs Gymnasium gehen kannst?«
Sarah schwieg.
»Auch wenn du beim letzten Mathetest eine Fünf bekommen haben solltest«, fuhr ich fort, »kriegst du auf dem Zeugnis auf jeden Fall eine Vier. Wegen der Zwei im Mündlichen, hat deine Lehrerin gesagt. Deine Versetzung zum Gymnasium ist also nicht gefährdet.«
»Papa!« Sarah schaute mich misstrauisch von der Seite an. »Hast du in meinen Schulsachen geschnüffelt?«
»Ich?«, protestierte ich. »Wie kommst du darauf? Das war jetzt nur so eine Vermutung von mir.«
Um fünf nach elf kam ich vor dem Haus der Kaisers an. Maries Minivan parkte schon am Straßenrand.
Sie schien im Flur gewartet zu haben, denn unmittelbar nach meinem Läuten öffnete sich die Tür. Marie trug ein geblümtes Kleid und hatte einen rötlichen Teint.
»Sie sehen gut aus«, sagte ich.
»Danke. Ich war zu lange in der Sonne.« Sie legte den Handrücken gegen die Wange. »Deshalb glühe ich heute wie eine Wärmflasche. Aber es war schön. Ich habe stundenlang mit meinen Kindern im Garten gespielt.«
Sie wirkte viel erholter als am Vortag, beinahe zufrieden.
Wir gingen durch das Wohnzimmer zum Arbeitszimmer ihres verstorbenen Mannes.
»Günters Beerdigung ist nächsten Dienstag. Aber Sie werden sicher nicht kommen wollen.«
»Doch«, sagte ich. »Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Mörder an der Beerdigung seines Opfers teilnimmt. Manche Täter genießen den Kitzel, sich unter die Trauernden zu mischen. Und genauso interessant ist das Gegenteil: Wenn jemand, der eigentlich kommen müsste, fehlt.«
Marie blieb stehen. »Das ist ja gruselig.«
»Entschuldigen Sie! Vielleicht hätte ich das nicht sagen sollen.«
»Zu spät.« Sie lächelte. »Um elf Uhr auf dem Zentralfriedhof.«
Sie stieß die Tür auf. Auf dem Schreibtisch lagen einige Mappen.
»Ich habe das da in einem Ordner gefunden«, berichtete Marie. »Offenbar hatte Günter vor, die Informationen zu veröffentlichen.«
»Und was ist das?«, fragte ich.
»Unterlagen darüber, dass Professor Varnholt in den siebziger und achtziger Jahren für den Verfassungsschutz gearbeitet hat. Varnholt war damals Assistent und hat Dossiers über linke Studenten angelegt.«
»V-Leute des Verfassungsschutzes gab es reichlich. Ich habe zu jener Zeit studiert.« Ich blätterte in einem Dossier. Es ging um einen Studenten, der führendes Mitglied im Marxistischen Studentenbund Spartakus gewesen war. Varnholt hatte die Aktivitäten des Studenten akribisch aufgelistet, unter anderem hatte er eine Rede des Spartakisten vor einer Vollversammlung protokolliert, die den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan rechtfertigte.
»Eine verrückte Zeit«, sagte ich. »An der Uni haben wir darüber gestritten, welche Form der Diktatur des Proletariats die beste wäre und anschließend kam für viele die Keule des Berufsverbots. Wer Lehrer werden wollte, konnte das mit so einem Dossier vergessen.«
Ich öffnete ein zweites Dossier. Varnholt stellte Mutmaßungen darüber an, wer ein Flugblatt verfasst hatte, in dem angeblich Sympathie für die Entführer und Mörder des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer bekundet wurde. Die Zeit des deutschen Herbstes. Ich
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