Wimsey 08- Zur fraglichen Stunde
fand, es machte das junge Volk faul und respektlos. Er selbst war seit zwanzig Jahren noch keinen Sonntag der Kirche ferngeblieben, nicht ein einziges Mal mehr, seit er sich einmal beim Sturz von einem Heuschober das Bein gebrochen hatte, und solange er noch die Kraft hatte, wollt’s Gott, würde er weiter unterm Vikar sitzen. O ja, er erinnerte sich, daß an dem Nachmittag ein fremder junger Mann durchs Dorf gekommen war. Natürlich konnte er ihn beschreiben; seinen Augen fehlte ja nichts, und seinem Gedächtnis auch nicht, Gott sei Lob und Dank! Nur sein Gehör war nicht mehr so gut, aber wie Mr. Ormond ja selbst feststellen konnte, brauchte man nur deutlich zu sprechen und nicht so zu nuscheln, wie die jungen Leute das heutzutage taten, dann verstand Mr. Gander einen ganz gut. So einer von diesen verkümmerten Städtern war das gewesen, mit dicker Brille und einem kleinen Rucksack auf dem Rücken und einem langen Stock zum Gehen, wie sie ihn jetzt alle hatten. Wandervögel nannte man sie. Die hatten alle so lange Stöcke, wie diese Pfadfinder ja auch, und dabei hätte ihnen jeder mit Erfahrung sagen können, daß nichts über einen kräftigen Eschenstock mit gebogenem Griff ging, um einen beim Gehen zu unterstützen. Denn das war doch klar, daß man daran einen besseren Halt hatte als an diesen langen Dingern. Aber das junge Volk hörte ja nie auf die Vernunft, vor allem die Frauen nicht, und er fand, daß sie ein bißchen zu weit gingen mit ihren nackten Beinen und kurzen Höschen wie die Fußballspieler. Dabei war Mr. Gander so alt auch wieder nicht, daß er nicht noch gern ein Paar hübsche Mädchenbeine sah. Zu seiner Zeit zeigten die Frauen ihre Beine nicht, aber er hatte Männer gekannt, die meilenweit gelaufen wären, um sich ein Paar hübsche Fesseln anzusehen.
Konstabler Ormond legte seine ganze Energie in die letzte Frage.
»Um welche Zeit ist dieser junge Mann hier durchgekommen?«
»Um welche Zeit? Sie brauchen nicht so zu schreien, junger Mann – ich bin zwar ein bißchen schwerhörig, aber noch nicht taub. Erst letzten Montag hab ich zum Vikar gesagt: ›Das war aber eine gute Predigt, die Sie uns da gehalten haben‹, sag ich zu ihm, und er sagt: ›Können Sie mich denn da, wo Sie sitzen, auch noch gut hören?‹ Und da sag ich zu ihm: ›Meine Ohren sind vielleicht nicht mehr so gut wie früher, als ich noch jung war‹, sag ich, ›aber ich kann Sie immer noch predigen hören, Sir, von ,Wir sprechen heute über’ bis ,zu Gott dem Vater’.‹ Und da sagt er: ›Sie sind noch prächtig beieinander für Ihr Alter, Gander‹, sagt er. Und da hat er schon recht.«
»Das hat er wirklich«, sagte Ormond. »Ich wollte Sie gerade fragen, wann Sie denn diesen Burschen mit der Brille und dem langen Stock durchs Dorf haben gehen sehen.«
»Kurz vor zwei war das«, erwiderte der alte Herr triumphierend, »kurz vor zwei Uhr. Und wissen Sie auch warum? Ich hab mir nämlich noch gedacht: ›Du willst dir sicher noch schnell mal die Kehle anfeuchten, mein Junge‹, hab ich gedacht, ›und die Drei Federn machen um zwei zu, da solltest du dich lieber was beeilen.‹ Aber der ging einfach vorbei; aus Wilvercombe kam er und ging gleich weiter in Richtung Hinks’s Lane. Da hab ich mir gesagt: ›Pah‹, sag ich, ›du bist mir wohl so einer von diesen Leisetretern, die nur Limonade trinken, und so siehst du auch aus, viel Wind und nichts Festes dahinter‹, wenn Sie den Ausdruck entschuldigen, aber das hab ich zu mir gesagt, und dann hab ich gesagt: ›Gander, das erinnert dich daran, daß du selbst gerade noch Zeit für ein Bierchen hast.‹ Also bin ich auf ein Bierchen hin, und wie ich in die Bar komme, ist es auf der Uhr über der Theke gerade zwei, denn die lassen sie immer fünf Minuten vorgehen, damit sie die Leute rechtzeitig rausbekommen.«
Konstabler Ormond steckte den Schlag schweigend ein. Wimsey hatte sich geirrt; er lag völlig verkehrt. Das Zwei-Uhr-Alibi war absolut hieb- und stichfest. Weldon war unschuldig; Bright war unschuldig; Perkins war unschuldig wie der junge Tag. Jetzt blieb nur noch zu beweisen, daß auch das Pferd unschuldig war, dann brach die ganze Weldon-Theorie zusammen wie ein Kartenhaus.
Er traf Wimsey auf dem Dorfanger und teilte ihm diese betrübliche Feststellung mit.
Wimsey sah ihn lange an.
»Haben Sie zufällig einen Eisenbahnfahrplan bei sich?« fragte er schließlich.
»Einen Fahrplan? Nein, Mylord. Aber ich könnte einen besorgen. Oder ich könnte Eurer
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