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Wimsey 10 - Das Bild im Spiegel

Wimsey 10 - Das Bild im Spiegel

Titel: Wimsey 10 - Das Bild im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
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wieder, »diese Dame, als ich sie kannte –«
    »Ich will es Ihnen erzählen«, sagte sie, »aber mein Vater darf es nicht erfahren. Der gute Doktor hat sie letzten Juni vor drei Jahren hierhergebracht, und da war sie so, wie Sie sagen. Sie war schön. Sie hat gelacht und in ihrer Sprache geredet – denn Spanisch oder Baskisch konnte sie nicht. Aber in der Nacht der Toten –«
    Sie bekreuzigte sich.
    »Am Abend vor Allerheiligen«, sagte Langley sanft.
    »Ich weiß nicht, was passiert ist. Aber da ist sie den Mächten der Finsternis verfallen. Sie hat sich verändert. Diese schrecklichen Schreie – ich kann es gar nicht beschreiben. Aber nach und nach ist sie dann so geworden, wie sie jetzt ist. Niemand bekommt sie zu sehen, außer Martha, und die redet nicht darüber. Aber die Leute sagen, das ist gar keine Frau mehr, die jetzt da oben wohnt.«
    »Ist sie verrückt?« fragte Langley.
    »Das ist keine Verrücktheit. Es ist – eine Verhexung. Hören Sie zu. Am Ostersonntag vor zwei Jahren – ist das mein Vater?«
    »Nein, nein.«
    »Die Sonne schien, und der Wind wehte vom Tal herauf. Den ganzen Tag hörten wir die Kirchenglocken. Am Abend klopfte es an die Tür. Mein Vater machte auf, und da stand jemand, wie die Heilige Jungfrau persönlich, ganz blaß, wie das Bildnis in der Kirche, mit einem blauen Umhang über dem Kopf. Sie sprach, aber wir konnten nicht verstehen, was sie sagte. Sie weinte und rang die Hände und zeigte den Talweg hinunter, und mein Vater ging in den Stall und sattelte das Maultier. Ich mußte an die Flucht vor dem bösen König Herodes denken. Aber dann – dann kam der amerikanische Doktor. Er war schnell gelaufen und ganz außer Atem. Und als sie ihn sah, schrie sie ganz laut.«
    Eine große Welle der Empörung ging über Langley hinweg. Wenn der Mann seine Frau brutal behandelte, mußte schnell etwas geschehen. Das Mädchen erzählte hastig weiter.
    »Er sagte – Jesus-Maria! – er sagte, daß seine Frau verhext ist. Zur Osterzeit ist die Macht des Bösen gebrochen, und dann versucht sie zu fliehen. Aber sobald die heilige Zeit vorbei ist, fällt der böse Zauber wieder über sie, und darum darf man sie nicht fortlassen. Meine Eltern hatten Angst, weil sie das Böse berührt hatten. Sie haben Weihwasser geholt und das Maultier damit besprenkelt, aber das Böse war schon in das arme Tier gefahren, und es trat meinen Vater so, daß er einen Monat nicht laufen konnte. Der Amerikaner nahm seine Frau mit sich fort, und wir haben sie nie mehr gesehen. Auch die alte Martha sieht sie nicht immer. Aber in jedem Jahr geht es mit der Macht des Bösen immer auf und ab – am schlimmsten ist es um Allerheiligen und am besten zu Ostern. Gehen Sie nicht zu diesem Haus, Señor, wenn Ihnen Ihr Seelenheil lieb ist! Still – da kommen sie zurück.«
    Langley hätte gern noch mehr gefragt, aber sein Gastgeber warf dem Mädchen einen raschen, mißtrauischen Blick zu. Langley nahm seine Kerze und begab sich zu Bett. Er träumte von Wölfen, die langgestreckt und schwarz und mager auf der Blutspur hetzten.
    Am nächsten Tag traf die Antwort auf seinen Brief ein:
    »Lieber Langley – ja, ich bin es wirklich, und natürlich erinnere ich mich an Sie. Es würde mich nur zu sehr freuen, wenn Sie zu uns kämen und uns ein wenig Abwechslung in unser Exil brächten. Ich fürchte allerdings, daß Sie Alice ein wenig verändert vorfinden werden, doch ich will Ihnen unser Mißgeschick erklären, wenn wir uns sehen. Unser Haushalt unterliegt gewissen Beschränkungen, weil die Menschen hier in ihrem Aberglauben dem Unglück aus dem Weg gehen, aber wenn Sie um halb acht kommen, werden wir Ihnen schon ein Abendessen vorsetzen können. Martha wird Ihnen den Weg zeigen.
    Herzlich,

    Standish Wetherall.«
    Das Haus des Arztes war klein und alt und stand etwa auf halber Höhe des Berges auf einer Art Felsband. Unsichtbar, aber nicht zu überhören, stürzte mit lautem Nachhall ganz in der Nähe ein Wasserfall herab. Langley folgte seiner Führerin in einen düsteren, viereckigen Raum mit einem großen Kamin an der einen Seite, vor dem, nah ans Feuer geschoben, ein großer Ohrensessel stand. Martha brummelte so etwas wie eine Entschuldigung und humpelte davon, und er blieb allein dort im Halbdunkel stehen. Die Flammen des Holzfeuers züngelten auf und nieder und warfen mal dahin, mal dorthin einen Schimmer, und als seine Augen mit dem Zimmer vertraut wurden, sah er in der Mitte einen gedeckten Tisch und an den Wänden

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