Wimsey 10 - Das Bild im Spiegel
Hebammen beglaubigt werden muß, gab’s damals noch nicht, so daß ein jeder diese Angelegenheit nach eigenem Gutdünken regeln konnte. Die Duckworthys zogen als komplette Familie samt Baby nach Brixton, wo Robert als waschechter kleiner Duckworthy aufwuchs.
Offenbar starb Emily in Australien, und Richard heuerte als Fünfzehnjähriger auf einem Schiff an, um sich die Heimfahrt zu verdienen. Er scheint kein besonders netter Junge gewesen zu sein. Zwei Jahre später kreuzte sich sein Weg mit dem seines Bruders Robert, und das führte dann zu den Ereignissen in jener Nacht des Bombenangriffs.
Hester mag von Roberts Seitenverkehrtheit gewußt haben oder auch nicht. Er selbst erfuhr jedenfalls nichts davon. Ich vermute, daß der Schock der Bombenexplosion ihn seine natürliche Neigung zur Linkshändigkeit wieder stärker hervorkehren ließ. Hinzu kam offenbar eine neue Neigung zu zeitweiligem Gedächtnisverlust unter ähnlichen Schockbedingungen. Das Ganze lastete ihm schwer auf der Seele, und er wurde zunehmend zerstreut und zum Schlafwandler.
Ich glaube fast, daß Richard die Existenz seines Doppelgängers entdeckt und zu seinem Vorteil ausgenutzt hat. Das würde auch den entscheidenden Vorfall mit dem Spiegel erklären. Robert muß die Glastür der Teestube mit der Spiegeltür des Friseursalons verwechselt haben. Es war in Wirklichkeit Richard, der ihm entgegenkam – und sich schleunigst verzog, um nicht gesehen zu werden und aufzufallen. Natürlich spielte ihm dabei der Zufall in die Hände, aber solche Begegnungen gibt es, und daß beide einen Schlapphut und Regenmantel trugen, ist bei dem Wetter an dem Tag nicht weiter verwunderlich.
Und dann ist da noch die Sache mit dem Foto. Der eigentliche Fehler liegt natürlich beim Fotografen, aber es würde mich nicht wundern, wenn Richard der Fehler gelegen kam und er deshalb gerade diesen Abzug ausgewählt hat. Das würde natürlich heißen, daß er von der Seitenverkehrtheit seines Bruders wußte. Mir ist nicht klar, wie er das erfahren haben könnte, aber vielleicht hatte er die Möglichkeit, Erkundigungen einzuziehen. In der Armee wußte man davon, und möglicherweise ist das Gerücht dann herumgegangen. Aber darauf will ich mich nicht festlegen.
Eines ist schon recht merkwürdig, und zwar, daß Robert im Traum jemanden erwürgt hat, und das, soweit es sich feststellen läßt, genau in der Nacht, als Richard diese Jessie Haynes um die Ecke brachte. Es heißt, daß eineiige Zwillinge einander immer sehr nah sind – daß der eine zum Beispiel immer weiß, was der andere gerade denkt, und daß er sich am selben Tag dieselbe Krankheit zuzieht und so weiter. Richard war der kräftigere von beiden, und vielleicht hat er Robert stärker dominiert als umgekehrt. Das weiß ich jedenfalls nicht. Meiner Meinung nach spielt das überhaupt keine Rolle. Die Hauptsache ist, daß ihr ihn gefunden habt.«
»Ja. Nachdem wir den Hinweis einmal hatten, war es ja nicht mehr schwer.«
»Na, dann wollen wir jetzt mal ins Cri gehen und einen darauf trinken.«
Wimsey stand auf und rückte vor dem Spiegel seine Krawatte zurecht.
»Trotz alledem«, sagte er, »Spiegel haben schon etwas Sonderbares an sich. Ein bißchen unheimlich, findest du nicht auch?«
Die unglaubliche Entführung
Eine Lord Peter Wimsey-Geschichte
»Dieses Haus, Señor?« fragte der Wirt der kleinen posada.
»Dieses Haus gehört dem amerikanischen Doktor, dessen Frau, mögen die Heiligen uns beistehen, verhext ist.« Er bekreuzigte sich, und seine Frau und Tochter taten es ihm nach.
»Verhext?« fragte Langley mitfühlend. Er war Professor für Ethnologie, und dies war nicht sein erster Besuch in den Pyrenäen. Er war jedoch noch nie an so einen entlegenen Ort wie diesen winzigen Weiler vorgedrungen, der wie ein Felsengewächs hoch oben an der zernarbten Granitschulter des Berges klebte. Er witterte Material für sein neues Buch über baskisches Volkstum. Wenn er behutsam vorging, konnte er den Alten vielleicht dazu bringen, ihm die Geschichte zu erzählen.
»In welcher Weise«, fragte er, »ist die Dame verhext?« »Wer weiß?« antwortete der Wirt schulterzuckend.
»›Der Mann, der freitags Fragen stellte, wurde samstags beerdigt.‹ Möchten Euer Gnaden jetzt wohl das Abendbrot zu sich nehmen?«
Langley verstand den Wink. Jetzt auf seiner Frage zu beharren, würde ihm nur störrisches Schweigen eintragen. Später vielleicht, wenn sie ihn besser kannten …
Das Abendessen wurde ihm am Familientisch
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