Wimsey 10 - Das Bild im Spiegel
dieselbe Frau, die ich kenne? Wie sieht sie aus? Sie war groß und schön, mit goldblonden Haaren und blauen Augen wie die Madonna. Ist sie das?«
Schweigen. Die alte Frau schüttelte den Kopf und murmelte etwas Unverständliches, doch dann flüsterte die Tochter:
»Das stimmt – das ist wahr. So haben wir sie einmal gesehen, genauso wie der Señor sagt –«
»Sei still«, befahl ihr Vater.
»Wir sind alle in Gottes Hand, Señor«, sagte Martha. Damit erhob sie sich und zog ihr Kopftuch fest. »Einen Moment«, sagte Langley. Er holte sein Notizbuch aus der Tasche und schrieb ein paar Zeilen. »Würden Sie Ihrem Herrn, dem Doktor, dieses Briefchen bringen? Es ist eine Mitteilung, daß ich hier bin, ein Freund von früher, und die Frage, ob ich ihn einmal besuchen darf. Weiter nichts.«
»Euer Gnaden werden doch nicht in dieses Haus wollen?« flüsterte der alte Mann furchtsam.
»Wenn er mich nicht empfangen will, kommt er vielleicht zu mir.« Er fügte noch ein paar Worte hinzu und nahm ein Geldstück aus der Tasche. »Bringen Sie ihm diesen Brief?«
»Gern, Señor, gern. Aber der Señor wird sich in acht nehmen? Und wenn der Señor auch Ausländer ist, vielleicht hat er doch den rechten Glauben?«
»Ich bin Christ«, sagte Langley.
Das schien sie zufriedenzustellen. Sie nahm Brief und Geld und verstaute beides zusammen mit dem Päckchen sicher in einer tiefen Tasche ihres Gewandes. Dann ging sie, kraftvoll und sicher für ihre gebeugten Schultern und ihr offenbar hohes Alter, zur Tür.
Langley blieb tief in Gedanken zurück. Nichts hätte ihn mehr erstaunen können, als hier an diesem Ort dem Namen Standish Wetherall zu begegnen. Er hatte die Episode schon vor über drei Jahren für beendet und erledigt gehalten. Ausgerechnet Wetherall! Der brillante Arzt in der Blüte seines Lebens und auf der Höhe seines Ruhms, und Alice Wetherall, dieses zarte, herrliche Bild von einer Frau
– beide hierher verbannt in diesen verlorenen Winkel der Welt! Bei dem Gedanken daran, sie wiederzusehen, schlug sein Herz ein wenig schneller. Vor drei Jahren war er zu dem Schluß gekommen, daß es klüger sei, nicht mehr allzuviel von dieser porzellanzarten Schönheit zu sehen. Diese Narretei war jetzt vorüber – aber immer noch konnte er sie nicht anders sehen als vor dem Hintergrund des großen weißen Hauses am Riverside Drive, mit den Pfauen und dem Schwimmbassin und dem vergoldeten Turm mit dem Dachgarten. Wetherall war ein reicher Mann, der Sohn des alten Automobilkönigs Hiram Wetherall. Was machte er hier?
Er versuchte, sich zu erinnern. Hiram Wetherall war tot, das wußte er, und das ganze Geld gehörte Standish, denn er war das einzige Kind. Es hatte Ärger gegeben, als der einzige Sohn ein Mädchen ohne Eltern und Familie heiratete. Er hatte sie »irgendwo draußen im Westen aufgegabelt«. Es ging eine Geschichte um, wonach er sie vor Jahren als verwahrlostes Waisenkind gefunden und vor irgend etwas gerettet oder von irgend etwas geheilt und dann ihre Ausbildung finanziert haben sollte, als er selbst kaum erst sein Studium hinter sich hatte. Und als er dann ein Mann über vierzig und sie ein Mädchen von siebzehn war, hatte er sie zu sich nach Hause geholt und geheiratet.
Und nun hatte er Haus, Geld und eine der besten Facharztpraxen von ganz New York im Stich gelassen und war hierher ins Baskenland gekommen – an diesen entlegenen Ort, wo man noch an Schwarze Magie glaubte und kaum ein paar Worte Französisch oder Spanisch kauderwelschte
– einen Ort, der selbst im Vergleich mit der primitiven Zivilisation ringsum unzivilisiert war. Langley begann es zu bereuen, daß er an Wetherall geschrieben hatte. Es konnte übel aufgefaßt werden.
Der Wirt und seine Frau waren hinausgegangen, um nach dem Vieh zu sehen. Die Tochter saß nah beim Feuer und flickte Wäsche. Sie sah ihn nicht an, aber er hatte das Gefühl, daß sie ganz gern reden würde.
»Sag mal, mein Kind«, begann er freundlich, »was ist das für ein Leid, das über diese Leute gekommen ist, die vielleicht Freunde von mir sind?«
»Oh!« Sie sah rasch auf und beugte sich näher zu ihm, die Arme über dem Flickzeug auf ihrem Schoß ausgestreckt.
»Lassen Sie sich einen Rat geben, Señor. Gehen Sie nicht dorthin. Um diese Jahreszeit bleibt niemand in diesem Haus, außer Tomaso, der nicht recht bei Verstand ist, und der alten Martha, die –«
»Was?«
»– die eine Heilige ist – oder etwas anderes«, sagte sie rasch.
»Kind«, sagte Langley
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