Wind - Das Bündnis der Elemente (German Edition)
das Waisenhaus gekommen, das behindert war. Mit vierzehn Jahren hatte Kai sich nichts daraus gemacht und mit ihm gespielt wie mit jedem anderen auch. Seltsamerweise machten viele Jugendliche des Waisenhauses einen Bogen um dieses Kind und er hatte beobachtet, dass auch viele Eltern, die gekommen waren, ein Kind zu sich zu nehmen, den behinderten Jungen mit abschätzigen Blicken bedacht hatten. Aber Anfälle wie den seiner Mutter gerade hatte er noch nie erleben müssen. Der behinderte Junge war gestorben, als Kai gerade fünfzehn geworden war. Man hatte ihm gesagt, seine Behinderung hätte zum Stillstand seines Herzens geführt. Er hatte nie erfahren, woran der Junge erkrankt war.
Herr Austen strich sich über die gerunzelte Stirn. „Das konnten mir die feinen Herren und Damen alle nicht sagen. Eine Menge Fachbegriffe, Vielleichts und Vermutungen. Aber niemand hatte eine klare Definition für das, was meiner Frau geschieht. Nun, ich halte es für das Beste, sie gut wie möglich zu pflegen und nett zu ihr zu sein.“
Er sah den Gesichtsausdruck seines Sohnes und klopfte ihm auf die Schulter.
„Die meisten der Heilkundigen, die ich bestellt habe, meinten, Karla selbst wisse nichts von ihrem geistigen Zustand. Es bringt nichts, Mitleid für sie zu empfinden. Es ist besser für sie und uns, es zu akzeptieren. Komm nun.“
Mit gemischten Gefühlen folgte Kai seinem Vater, noch immer geprägt vom eben Durchlebten.
Es ging tief unter das Haus, in das Kellergewölbe der Villa. Fein herausgearbeitete Treppenstufen waren mit Marmor ausgelegt und führten zu einem Gang, ebenfalls weiß marmoriert und von hellen Lampen beleuchtet. Erstaunt betrachtete Kai den Raum, der gut ein Drittel des Grundrisses der Villa ausfüllte. An ihn schlossen sich mehrere Räume, die ihm aber für den Moment noch verschlossen waren. Er sah lediglich viele Türen, die fort vom Marmor führten. Hinter den meisten war es dunkel. Und sie waren immer dunkel, was er aber nicht wusste. Denn hier bewahrten die Windler ihre tiefsten, dunkelsten Geheimnisse auf. Geheimnisse, die die Welt niemals zu Gesicht bekommen würde. Weder Kai, noch ein anderer Mensch.
„Was ist das hier?“, flüsterte. Er hatte unbeabsichtigt respektvoll die Stimme gesenkt. Die Atmosphäre hier unten war schwer zu beschreiben. Und sie sog jeden Einzelnen auf, der in ihr eindrang. Sie saugte jedes Geräusch, jegliche Gedanken und Nervosität auf. Wer hier unten war, fühlte sich klein und unbedeutend. Und doch wusste Kai nicht, woher dieses erschlagende Gefühl rührte. Es gab nichts, was diesen Raum bedrohlich machen würde. Wer schon einmal durch die Türen von Westminster Abbey getreten war, hatte lediglich einen Vorgeschmack von dem, was Kai hier unten empfand. Ob es nun am Marmor lag oder an den sauber ausgeleuchteten Ecken wusste er nicht. Er wusste nur, dass er sich hier unwohl fühlte und doch nicht von diesem Raum los kam.
„Das ist das Herz der Windler.“, sagte Hieronymus mit Stolz. „Alles, was uns ausmacht, Kai, befindet sich hier unten. Dinge, die ein jeder von uns bewegt und schon gesehen hat. Und die der Rest der Welt nicht kennt. Aber du wirst alles kennen lernen, mein Sohn. Lass dir Zeit, die Dinge auf dich wirken zu lassen und sie dann zu verstehen.“
Kai zuckte zusammen als sie an einer unscheinbar aussehenden Tür vorbei kamen, gegen die auf einmal von innen etwas schlug. Mit viel Krach und einer gewaltige Wucht. „Was...?“, fing er an und deutete auf die Tür.
Doch sein Vater ließ ihn die Frage nicht einmal aussprechen. „Geduld, mein Sohn.“, mahnte er erneut. „Du wirst alles erfahren. Auch von unseren Helfern, die ihr niemals zu Gesicht bekommen habt.“
Herr Austen steuerte eine Tür an, die weit hinter der Treppe lag, die in die Mitte des Raumes ragte. Sie war nicht ganz so unscheinbar wie alle anderen Türen. Im Gegenteil. Die Panzerung und die festen Eisenschlösser ließen auf den ersten Blick wissen, dass sich hier etwas ganz Besonderes verbarg.
Gespannt wartete Kai, dass sein Vater ein Schlüsselbund hervorzog und dann den Weg auf den Raum dahinter freigab. Er trat als erstes ein und machte Licht, indem er auf einen Schalter drückte, der an der Wand hing.
Zuerst blinzelte der Student, damit sich seine Augen an das gelbliche Licht gewöhnten. Dann durchfuhr es ihn heiß und kalt. Kalt, da in diesem Raum eisige Temperaturen herrschten. Heiß, weil er nicht glauben wollte, was er sah.
Weißes Eis hing von der Decke, die gefroren
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