Wind der Gezeiten - Roman
und die hätte dergleichen sicher nicht behauptet, wenn es nicht wahr gewesen wäre. Anne tat und sagte immer das, was sie für richtig hielt, vor allem in der letzten Zeit. Seit sie mit Duncan aus London zurückgekehrt war, kam sie Felicity verändert vor. Irgendwie… selbstbewusster und entschiedener in ihrem ganzen Wesen. Sie sagte oft Dinge wie: » Ich war früher eine solche Gans! « , oder: » Ich habe mir einfach immer zu viel gefallen lassen, nur um es den Leuten recht zu machen! « , oder auch, und das hatte Felicity besonders beeindruckt: » Manchmal muss man sich vom Leben nehmen, was es einem freiwillig nicht geben will, Felicity! «
Felicity erinnerte sich nicht mehr an den genauen Zusammenhang, in dem dieser Satz gefallen war, doch er schien ihr von unübertroffener Klarheit und Wahrheit, je länger sie darüber nachdachte. Tatsächlich passte er so genau auf ihre eigene Situation, dass sie ihn manchmal, wenn niemand es hören konnte, leise vor sich hin sagte, um seinen Sinn besser zu verinnerlichen, bis sie vollständig davon durchdrungen war. Oh ja, auch sie wollte sich vom Leben nehmen, was sie nicht von allein bekam. Wenn sie nur gewusst hätte, wie sie es anstellen sollte! Sie hatte ein Dutzend Briefe an Niklas auf den Weg gebracht, alle paar Tage einen neuen. Jeder, der auch nur halbwegs den Eindruck erweckte, sich auf eine Seereise begeben zu wollen, bekam einen in die Hand gedrückt, doch es tat sich nichts. Woche um Woche verstrich in quälender Langsamkeit, während sie voller Ungeduld darauf wartete, dass endlich etwas geschah. Als Anne sich nach London aufgemacht hatte, war es noch schlimmer geworden, denn sie war kurzerhand dort geblieben, um Duncan gesund zu pflegen. Dabei hätte Felicity ebenfalls noch ihre Hilfe brauchen können. Die Wunde war zwar ordentlich verheilt, jedenfalls hatte der Arzt das gesagt, aber es hatte noch sehr lange bei jeder Bewegung wehgetan. Der große Splitter, der so tief in ihren Körper eingedrungen war, hatte nicht nur die Haut verletzt, sondern auch die darunter liegende Rippe und das Zwerchfell. So jedenfalls hatte Anne es ihr erklärt. Sie hätte leicht verbluten oder an einer inneren Entzündung sterben können. Entsprechend langwierig war der Heilungsprozess gewesen. Bis vor Kurzem hatte sie kein Mieder tragen und ihren Arm kaum auf Schulterhöhe heben können. Beim An- und Auskleiden war sie nicht ohne fremde Hilfe zurechtgekommen, und zu ihrem Leidwesen war diese Aufgabe während Annes Abwesenheit Mistress Hawkins zugefallen, der Gattin des Werftverwalters. Die Frau hatte sich alle Mühe gegeben, aber Felicity hatte sie kaum in ihrer Nähe ertragen können, denn niemals zuvor hatte sie jemanden gekannt, der so entsetzlich aus dem Mund stank. Ein Gutes hatte diese Fürsorge dennoch gehabt– Felicity hatte sich unerwartet schnell wieder einigermaßen selbst helfen können. Sie hatte einfach die Zähne zusammengebissen und es so lange versucht, bis es wieder ging. Mittlerweile, nach gut zwei Monaten, sah die Narbe, die sich über ihre Rippen zog, immer noch hässlich aus, rot und wulstig und so groß, dass sie anfangs bei jedem Hinschauen in Tränen ausgebrochen war. Dabei sorgte sie sich nicht etwa darum, dass Niklas daran Anstoß nehmen könnte, denn sie wusste genau, dass er sie wegen dieser Verletzung nicht weniger lieben würde. Doch ihr Körper war immer makellos gewesen, ihr ganzer Stolz. Nicht einmal die grauenhaften Qualen, die sie während der Vergewaltigung durch die Schotten hatte durchmachen müssen, hatten bleibende Spuren hinterlassen.
Seufzend zog sie das Leibchen wieder herab und legte das Mieder an. Richtig zuschnüren konnte sie es noch nicht, die Verstärkungen drückten zu stark auf die Narbe. Sie kaschierte den schlechten Sitz mit einem Umschlagtuch. Ihre Aufmachung interessierte momentan sowieso niemanden. Duncan und Anne waren zwar seit drei Tagen zurück, aber andauernd auf dem Gut unterwegs. Duncan ließ sich vom Verwalter die Ländereien zeigen und prüfte die Haushalts- und Pachtbücher, und Anne verteilte milde Gaben an die Armen und kümmerte sich um kranke Kinder.
Felicity hatte unterdessen ihre Habe gepackt und war gerade dabei, zum dritten oder vierten Mal alles wieder aus den Kisten zu holen und es neu zu ordnen. Sie war verzweifelt, weil sie sicher war, bis zum Beginn der Reise nicht damit fertig zu werden und Dinge zurücklassen zu müssen, auf die sie unmöglich verzichten konnte. Anne hatte mit mildem Spott
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