Wind der Gezeiten - Roman
einem Mann stammten, vermutlich dem Besitzer des Wirtshauses.
» Ich will nichts von dir, das kannst du mir ruhig glauben. Dein Vater hat sich für dich gewünscht, dass du nach Bedford zurückkehrst, zu deiner Tante. Ich habe mit ihm ausgemacht, dir dieses Gold zu schenken, damit du sicher heimkehren und dort ein neues und besseres Leben anfangen kannst. «
» Das hat er gesagt? « Ihre Stimme zitterte, und nun liefen doch noch die Tränen. Sie schniefte und putzte sich mit dem Handrücken die Nase ab. » Hat mein Dad… hat er schlimm leiden müssen? «
» Nein « , behauptete Duncan aufs Geratewohl.
» Sie haben seinen Kopf auf eine Stange gesteckt « , stieß sie schluchzend hervor. » Er konnte nicht mal anständig begraben werden! «
Nach kurzem Überlegen gab er seinem Herzen einen Stoß. » Ich gehe zu den Torwächtern und sorge dafür, dass sie ihn runternehmen und zum Friedhof bringen. Dann kann er in Frieden ruhen. «
Sie betrachtete die Münzen mit nassen Augen.
» Mein Onkel nimmt sie mir sofort weg. Ich darf kein eigenes Geld haben und Gold schon gar nicht. «
Duncan musste nicht lange überlegen. Er hatte erwartet, dass es dieses Problem geben würde.
» Hol dein Bündel und komm dann wieder raus. Ich warte hier. «
» Aber mein Onkel… «
» Hat keine Befehlsgewalt über dich, zumal er überhaupt nicht dein richtiger Onkel ist, sondern nur ein Vetter deines Vaters. Wenn er Schwierigkeiten macht, schreist du. Dann komme ich rein und prügle ihn windelweich. «
Sie dachte kurz nach, dann atmete sie tief durch. Mit einem Mal wirkte sie sehr entschlossen.
» Ich habe keine Sachen zum Mitnehmen « , sagte sie. » Mir gehört nur das, was ich am Leib trage. Und die Schuhe sind nicht mal meine, sondern bloß geborgt. «
In ihrer Stimme lag dumpfe Resignation. Duncan unterdrückte ein mitleidiges Seufzen. Das Leben der armen Leute in London war häufig noch entbehrungsreicher und härter als das von karibischen Sklaven und Schuldknechten. Die bekamen wenigstens immer satt zu essen, da ihr Nutzen davon abhing, dass sie bei Kräften blieben.
» Wenn das so ist, dann würde ich sagen, du fährst gleich los « , erklärte er.
» Losfahren? « , fragte sie zweifelnd.
» Komm mit. « Er führte sie zu der Kutsche, die ihn hergebracht hatte und auf ihn wartete. Er gab dem Fahrer Geld für eine längere Fahrt, womit sich die Ausgaben, die er an diesem Tag bereits getätigt hatte, beträchtlich summierten. Sein Gewissen meldete sich, weil es Elizabeths Vermögen war, das er hier so freigiebig unter die Leute brachte, denn die Erlöse aus dem Verkauf des Tropenholzes und die Erträge der Werft waren inzwischen für all die teuren Investitionen der letzten Wochen draufgegangen. Der Neuanfang, den er und Elizabeth planten, sollte genauso werden, wie er es sich vorstellte. Halbe Sachen kamen nicht infrage.
Auf Duncans Geheiß stieg Nell zögernd in den Wagen, während er dem Kutscher sagte, wo es hinging, und anschließend zurücktrat. Das Gefährt rollte an, und als Nell, die immer noch fassungslos dreinschaute, den Kopf aus dem Fenster streckte, winkte er ihr zum Abschied zu.
» Kauf dir neue Schuhe! « , rief er ihr nach.
Anschließend ging er zurück in den Goldenen Anker und teilte dem Wirt in knappen Worten mit, dass er dem letzten Wunsch von Nells Vater entsprochen und das Mädchen in ihr Heimatdorf geschickt habe. Das protestierende Gejammer des Mannes ignorierend, verließ er ungerührt die Schenke und ging zum Südtor, um wie versprochen einen der Wächter zu bestechen. Der wiederum kratzte sich zweifelnd am Kopf und betrachtete die Reihen der schaurigen Schädel.
» Ein Kerl namens Samuel? Den Zunamen wisst Ihr wohl nicht, was? «
» Für das Geld da in Eurer Hand solltet Ihr es wohl selbst herausfinden können. «
» Ich tu mein Bestes « , versprach der Wächter.
Duncan gab sich keinen Illusionen hin. Der Mann würde einfach den nächstbesten Kopf herunterholen und zum Totengräber bringen, aber da Nell es sowieso nicht mehr mitbekam, spielte das keine Rolle. Allein die Geste zählte, fand Duncan. Folglich ließ er es dabei bewenden und bestieg die nächste verfügbare Mietkutsche, um zu Ayscues Haus zurückzufahren. Wo sich hoffentlich mittlerweile einiges zwischen Anne und George geklärt hatte. Falls es die zwei während seiner Abwesenheit immer noch nicht geschafft hatten, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, konnte er ihnen auch nicht mehr helfen. Beide waren alt genug und
Weitere Kostenlose Bücher